Jeder Mensch ist einzigartig, doch im Laufe der Geschichte hat die Menschheit bestimmte Persönlichkeitsmuster erkannt, die uns helfen, uns selbst und andere besser zu verstehen. Eines der ältesten und tiefgründigsten Systeme ist das der vier Temperamente, das seinen Ursprung in der klassischen Philosophie hat und von der christlichen Tradition übernommen und bereichert wurde.
Weit mehr als eine bloße psychologische Theorie kann das Studium der Temperamente uns helfen, in den Tugenden zu wachsen, unsere Beziehungen zu stärken und – am wichtigsten – auf dem Weg zur Heiligkeit voranzuschreiten. Wie es im Buch der Sprüche heißt:
„Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr lenkt seine Schritte“ (Sprüche 16,9).
Das Erkennen unseres Temperaments gehört zur notwendigen Selbsterkenntnis, um uns von Gott formen zu lassen.
Was sind die vier Temperamente?
Das Konzept der vier Temperamente stammt aus dem antiken Griechenland und wurde von Hippokrates entwickelt und später von Galen weitergeführt. Nach dieser Theorie gibt es vier grundlegende Persönlichkeitstypen, die durch das Überwiegen bestimmter Körpersäfte bestimmt werden. Obwohl die moderne Wissenschaft diese physiologische Grundlage nicht mehr unterstützt, bleibt diese Klassifikation nützlich, um den menschlichen Charakter zu verstehen.
Die vier Temperamente sind:
- Choleriker: Energisch, entschlossen und dominant.
- Sanguiniker: Fröhlich, gesellig und begeisterungsfähig.
- Melancholiker: Nachdenklich, tiefgründig und sensibel.
- Phlegmatiker: Gelassen, geduldig und stabil.
Aus christlicher Sicht bestimmen diese Temperamente nicht unsere Moral, aber sie beeinflussen unsere Tendenzen und die Art und Weise, wie wir das geistliche Leben angehen. Sie zu verstehen hilft uns, unsere Tugenden zu stärken und an unseren Schwächen zu arbeiten.
Die Vier Temperamente und das Geistliche Leben
Jedes Temperament besitzt spezifische Gaben, aber auch Schwächen, die mit Gottes Gnade korrigiert werden müssen. Sehen wir uns an, wie jedes einzelne im geistlichen Leben wachsen kann.
1. Der Choleriker: Die Kraft des Willens
Der Choleriker ist ein geborener Anführer. Er ist leidenschaftlich, entschlossen und verfolgt seine Ziele mit Beharrlichkeit. In der Geschichte der Kirche waren viele cholerische Heilige große Reformer und Verteidiger des Glaubens, wie zum Beispiel der heilige Ignatius von Loyola oder die heilige Teresa von Ávila.
Tugenden, die zu fördern sind: Mut und Entschlossenheit können wertvolle Verbündete in der Evangelisierung und im Wachstum in der Heiligkeit sein.
Schwächen, die zu korrigieren sind: Der Choleriker kann ungeduldig, autoritär und zu Jähzorn neigend sein. Der heilige Franz von Sales, der selbst ein cholerisches Temperament hatte, arbeitete sein Leben lang daran, Sanftmut und Demut zu kultivieren.
Geistlicher Rat: Geduld und Demut durch Gebet und Selbstverleugnung entwickeln. Die Worte Jesu „Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Matthäus 11,29) sollten für den Choleriker ein Leitmotiv sein.
2. Der Sanguiniker: Die Freude des Evangeliums
Der Sanguiniker ist extrovertiert, optimistisch und charismatisch. Seine Begeisterung ist ansteckend, was ihn zu einem hervorragenden Kommunikator der christlichen Botschaft macht. Heilige wie der heilige Philipp Neri oder der heilige Franz von Assisi hatten ein sanguinisches Temperament, und ihre Freude zog viele Seelen zu Christus.
Tugenden, die zu fördern sind: Seine Fähigkeit, sich mit anderen zu verbinden und Freude zu verbreiten, ist ein wertvolles Geschenk für die Evangelisierung.
Schwächen, die zu korrigieren sind: Er kann oberflächlich, inkonsequent und leicht ablenkbar sein. Das geistliche Leben erfordert Tiefe und Disziplin – etwas, woran der Sanguiniker arbeiten muss.
Geistlicher Rat: Beharrlichkeit im Gebet und Selbstdisziplin entwickeln. Ein entscheidender Bibelvers für den Sanguiniker lautet:
„Passt euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung eures Sinnes“ (Römer 12,2).
3. Der Melancholiker: Die Tiefe der Seele
Der Melancholiker ist nachdenklich, sensibel und perfektionistisch. Seine natürliche Neigung zur Introspektion macht ihn empfänglich für ein tiefes geistliches Leben. Viele große Theologen und Mystiker waren melancholisch, wie der heilige Johannes vom Kreuz oder der heilige Thomas von Aquin.
Tugenden, die zu fördern sind: Seine Liebe zur Wahrheit und Schönheit ermöglicht ihm ein intensives Gebetsleben.
Schwächen, die zu korrigieren sind: Er kann pessimistisch, verschlossen und von Skrupeln geplagt sein. Er neigt dazu, sich auf seine Fehler zu konzentrieren und sich der Liebe Gottes nicht würdig zu fühlen.
Geistlicher Rat: Lernen, Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen und lähmenden Perfektionismus zu vermeiden. Der heilige Paulus erinnert uns:
„Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung“ (2. Korinther 12,9).
4. Der Phlegmatiker: Frieden inmitten des Sturms
Der Phlegmatiker ist ruhig, geduldig und ausgeglichen. Seine emotionale Stabilität ist ein wertvolles Geschenk im gemeinschaftlichen und familiären Leben. Viele phlegmatische Heilige waren große Seelsorger und geistliche Begleiter, wie zum Beispiel der heilige Johannes XXIII.
Tugenden, die zu fördern sind: Seine Gelassenheit und Klugheit sind entscheidend für das christliche Leben.
Schwächen, die zu korrigieren sind: Er kann passiv, träge und opferscheu sein. Selbstzufriedenheit ist eine geistliche Gefahr für ihn.
Geistlicher Rat: Apostolischen Eifer und Großzügigkeit kultivieren. Ein wichtiger Vers für den Phlegmatiker lautet:
„Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt anwenden, reißen es an sich“ (Matthäus 11,12).
Praktische Anwendungen im christlichen Leben
Die Kenntnis unseres eigenen Temperaments und das der anderen hilft uns, unsere Beziehungen zu verbessern und im geistlichen Leben voranzukommen. Einige praktische Anwendungen:
- In der Familie: Das Verständnis des Temperaments jedes Familienmitglieds hilft uns, geduldiger zu sein und mit Weisheit zu erziehen.
- Im Gebetsleben: Wir können unsere Spiritualität an unser Temperament anpassen und Gebetsformen wählen, die uns im Glauben wachsen lassen.
- In der Evangelisation: Wenn wir unsere Art der Kommunikation kennen, können wir effektiver Zeugen des Evangeliums sein.
Fazit
Gott hat jedem von uns ein einzigartiges Temperament gegeben, doch wir sind nicht dazu berufen, in unseren Schwächen zu verharren – wir sind dazu berufen, durch Seine Gnade verwandelt zu werden. Heiligkeit ist nicht auf einen bestimmten Persönlichkeitstyp beschränkt, sondern wir alle sind dazu berufen, Christus ähnlich zu werden.
Möge der Herr uns die Gnade schenken, uns selbst zu erkennen, uns anzunehmen und uns nach Seinem Willen zu verwandeln. Heilige gemäß unserem Temperament, aber vor allem: Heilige!