Katholische Politik? Warum das Wählen des „geringeren Übels“ laut Katechismus Sünde sein kann

In Wahlzeiten stehen viele Katholiken vor einem scheinbar unlösbaren Dilemma: Wie kann man evangeliumstreu wählen, wenn kein Kandidat die katholischen Werte vollständig widerspiegelt? Die häufigste Antwort – selbst von Mitgliedern der Kirche – lautet: „Dann wähle ich eben das geringere Übel.“ Aber ist dieser Ansatz wirklich katholisch? Was lehrt die Kirche tatsächlich darüber? Kann das Wählen des „geringeren Übels“ eine Sünde sein?

Dieser Artikel bietet eine tiefgründige, zugängliche und geistlich verwurzelte Reflexion zu dieser aktuellen und dringenden Frage, gestützt auf den Katechismus der Katholischen Kirche (insbesondere §2240), die Heilige Schrift und die lebendige Tradition der Kirche. Denn Wählen ist nicht nur ein staatsbürgerlicher Akt – es ist vor allem ein moralischer Akt.


1. Die politische Verantwortung der Katholiken laut Katechismus

Der Katechismus der Katholischen Kirche, in §2240, lehrt:

„Die Unterordnung unter die rechtmäßige Autorität und der Dienst am Gemeinwohl erfordern, dass die Bürger sich an der politischen Gemeinschaft beteiligen. Die Unterordnung unter die Autorität und die Mitverantwortung für das Gemeinwohl verpflichten moralisch zur Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten: Steuerzahlung, Wahlrecht, Landesverteidigung.“

Hier erkennt die Kirche nicht nur die Pflicht zur Beteiligung am öffentlichen Leben an, sondern betont auch die moralische Dimension dieser Beteiligung. Wählen ist keine neutrale Option: Es ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Verantwortung als Bürger des Himmels, die auf der Erde leben (vgl. Philipper 3,20).


2. Die eigene Stimme abwägen: Ist das geringere Übel moralisch vertretbar?

In der katholischen Morallehre gibt es ein Prinzip, das als Prinzip des geringeren Übels bekannt ist. Seine Anwendung ist jedoch weitaus nuancierter, als viele annehmen.

Was die Kirche lehrt:

Wenn man mit zwei unausweichlichen Übeln konfrontiert ist, kann man das geringere dulden, wenn keines von beiden vermeidbar ist. Dies betrifft jedoch eine passive Toleranz, nicht eine aktive Kooperation mit dem Bösen.

Was die Kirche nicht lehrt:

Die Kirche lehrt niemals, dass man aktiv ein moralisches Übel wählen darf, um ein größeres zu vermeiden. Man darf niemals direkt das Böse wollen, selbst wenn es das „geringere“ ist. Der Katechismus ist in §1756 ganz klar:

„Es ist daher verkehrt, die Moralität menschlicher Handlungen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Absicht oder der Umstände zu beurteilen […]. Man darf niemals Böses tun, damit daraus Gutes entsteht.“

Und der Apostel Paulus sagt:

„Und sollen wir etwa Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe? Manche behaupten das über uns, sie verleumden uns damit. Ihre Verurteilung ist gerecht.“ (Römer 3,8)

Wenn ein Kandidat also Gesetze oder Maßnahmen unterstützt, die an sich böse sind (z. B. Abtreibung, Euthanasie, Gender-Ideologie, religiöse Verfolgung oder strukturelle Ungerechtigkeit), kann ein Katholik diesen Kandidaten nicht bewusst unterstützen – selbst nicht im Namen des geringeren Übels – ohne das Risiko einer schweren Sünde, sofern es eine moralisch akzeptable Alternative gibt.


3. Historische Perspektive: Politisches Urteilsvermögen in der Kirchengeschichte

Im Laufe der Geschichte hat die Kirche die Gläubigen gelehrt, politische Entscheidungen unter einem zentralen Prinzip zu treffen: Die Vorrangstellung des Sittengesetzes vor jeder Machtstruktur. In den ersten Jahrhunderten zogen es Christen vor, als Märtyrer zu sterben, statt am Kaiserkult teilzunehmen. Sie wählten nicht den „weniger heidnischen“ Kaiser – sie zogen den Tod der Kooperation mit dem Bösen vor.

In der Neuzeit bekräftigen kirchliche Dokumente wie der „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ und Enzykliken wie Evangelium Vitae von Papst Johannes Paul II., dass das politische Engagement untrennbar mit einem gut gebildeten Gewissen verbunden sein muss. Johannes Paul II. schrieb:

„Ein Gesetz, das direkt das Recht auf Leben eines unschuldigen Menschen verletzt, steht im völligen Widerspruch zu diesem unantastbaren Recht.“ (Evangelium Vitae, 72)


4. Praxisleitfaden: Wie man als treuer Katholik wählt

Hier ein konkreter pastoraler Leitfaden, um moralisch integer zu wählen:

✅ Schritt 1: Das Gewissen richtig bilden

  • Den Katechismus lesen (besonders §§2240, 1735–1756).
  • Dokumente der Kirche wie Evangelium Vitae, Caritas in Veritate, das Kompendium der Soziallehre studieren.
  • Sich nicht von Emotionen, Parteibindungen oder Trends leiten lassen.

✅ Schritt 2: Nicht verhandelbare Prinzipien erkennen

Laut Benedikt XVI. und der ständigen Lehre der Kirche gibt es nicht verhandelbare Prinzipien:

  • Schutz des Lebens (von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod).
  • Schutz von Ehe und Familie.
  • Religionsfreiheit.
  • Recht der Eltern auf religiöse Erziehung ihrer Kinder.

✅ Schritt 3: Kandidaten bewerten

  • Fördern sie das umfassende Gemeinwohl oder nur ideologische Interessen?
  • Haben sie unmoralische Gesetze unterstützt oder verabschiedet?
  • Greift ihr Programm nicht verhandelbare Prinzipien an?

✅ Schritt 4: Das mögliche Gute suchen, nicht das tolerierbare Böse

  • Wenn kein Kandidat perfekt ist, wählt man denjenigen, der keine intrinsisch bösen Positionen unterstützt, auch wenn er in anderen (nachrangigen) Punkten schwächer ist.
  • Mit gutem Gewissen, wenn alle Kandidaten moralisch unvertretbar sind, ist es zulässig, sich zu enthalten oder weiß zu wählen, als Zeugnis, nicht aus Gleichgültigkeit.

✅ Schritt 5: Im Gebet handeln

  • Vor der Wahl den Heiligen Geist um Licht bitten.
  • Für politische Entscheidungsträger beten, auch für jene, die man ablehnt (vgl. 1 Timotheus 2,1–2).

5. Was, wenn ich aus Unwissenheit das geringere Übel gewählt habe?

Die Kirche bietet immer Licht, keine Verurteilung. Wer aus nicht schuldhafter Unwissenheit falsch gewählt hat, hat keine Sünde begangen. Aber wenn man bewusst für ein schweres moralisches Übel stimmt, ist die Beichte notwendig, mit dem Vorsatz, künftig besser zu unterscheiden.


6. Politik als Akt der Nächstenliebe

Papst Johannes XXIII. sagte:

„Die Politik ist die höchste Form der Nächstenliebe.“

Es geht also nicht nur darum, richtig zu wählen: Es geht darum, das Gemeinwohl aktiv aufzubauen, angefangen in der Familie, der Pfarrgemeinde, der lokalen Gemeinschaft, der Bildung und dem Dienst an den Armen.


7. Schlussfolgerung: Das Gewissen verhandelt nicht mit dem Bösen

Die Treue zu Christus verlangt Mut. In einer Welt des Relativismus müssen Christen das Salz der Erde und das Licht der Welt sein (Matthäus 5,13–14) – auch in der Wahlkabine.

Wählen heißt nicht, zwischen zwei Übeln zu entscheiden, sondern das mögliche Gute zu unterstützen, ohne das Evangelium zu verraten. Ist dies nicht möglich, ist es besser, sich zu enthalten, als Komplize der Ungerechtigkeit zu werden.

Wie der heilige Thomas Morus, Märtyrer des Gewissens, sagte:

„Ich sterbe als guter Diener des Königs, aber Gott zuerst.“


📿 Geistlicher Leitfaden für politische Unterscheidung

  • Gewissensprüfung vor der Wahl: Lasse ich mich vom Glauben oder vom Eigeninteresse leiten?
  • Regelmäßige Beichte: Besonders in Zeiten wichtiger Entscheidungen.
  • Eucharistische Anbetung: Um Klarheit vor dem Allerheiligsten zu erbitten.
  • Gebet für die Umkehr der politischen Führer: Auch für jene, die dem Glauben entgegenstehen.
  • Ständige Weiterbildung in der Lehre der Kirche: Damit wir „nicht mehr Unmündige sind, die sich von jedem Wind der Lehre hin und her werfen lassen“ (Epheser 4,14).

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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