Ein spiritueller Leitfaden zum Verständnis des göttlichen Herzens des Christentums
Einleitung: Wenn Gott mit sich selbst tanzt
Es gibt Worte, die zwar nicht wörtlich in der Bibel vorkommen, uns aber den Zugang zu den tiefsten Geheimnissen des christlichen Glaubens eröffnen. Eines dieser Worte ist Perichorese. Dieser Begriff, in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, aber zentral für die trinitarische Theologie, beschreibt die innige Liebesgemeinschaft zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Es handelt sich nicht um eine abstrakte philosophische Idee, sondern um ein lebendiges, dynamisches, brennendes Prinzip, das unser spirituelles Leben, unsere Beziehungen und unser Gottesverständnis verwandeln kann.
Perichorese ist im Wesentlichen der ewige „Tanz“ der gegenseitigen Liebe innerhalb der Dreifaltigkeit. Eine Liebe, die nicht ausschließt, sondern sich nach außen verströmt und jeden von uns einlädt, daran teilzuhaben. Welche Bedeutung hat das für unser tägliches Leben? Wie kann uns ein so unfassbares Geheimnis heute inspirieren?
Tauchen wir gemeinsam ein in diesen göttlichen Tanz.
1. Etymologie und Bedeutung: Was bedeutet „Perichorese“?
Das Wort Perichorese stammt aus dem Griechischen:
- peri (περί): „um… herum“
- chóresis (χωρέω): „enthalten“, „Platz machen“, „Raum geben“ oder nach einer anderen Wurzel auch: „sich bewegen um“
Obwohl die genaue Etymologie nicht eindeutig feststeht, verstanden viele griechische Kirchenväter Perichorese als ein Bild dynamischer Durchdringung, einer gegenseitigen Innewohnung ohne Vermischung. Jede Person der Dreifaltigkeit wohnt vollkommen in den anderen beiden, ohne ihre Identität zu verlieren oder sich zu vermengen.
Johannes von Damaskus (8. Jh.), Kirchenvater und Kirchenlehrer, war einer der ersten, der diesen Begriff mit theologischer Präzision verwendete. Er sagte: „Die drei Personen existieren ineinander ohne Verwirrung und ohne Trennung.“ Das ist die Grundlage unseres Verständnisses von dem einen und dreifaltigen Gott.
2. Theologiegeschichtlicher Hintergrund: Von den Vätern bis zum Lehramt
Auch wenn das Wort Perichorese erst in der griechischen Vätertheologie voll entwickelt wurde, ist die dahinterliegende Idee von Anfang an präsent. Schon im Johannesevangelium finden wir einen klaren Hinweis:
„Ich bin im Vater und der Vater ist in mir.“ (Joh 14,10)
Diese gegenseitige Innewohnung war der Ausgangspunkt für die östlichen Kirchenväter wie Gregor von Nyssa und Basilius den Großen, um eine Vorstellung der Dreifaltigkeit als lebendige Gemeinschaft zu entwickeln. Gegen die Gefahr, Gott als drei getrennte Götter (Tritheismus) oder als bloße Erscheinungsformen einer einzigen Person (Modalismus) zu begreifen, sicherte die Perichorese Einheit ohne Verlust der Unterscheidung.
Im 13. Jahrhundert griff der heilige Thomas von Aquin diese Sichtweise in seiner Summa Theologiae philosophisch fundiert auf. Er erklärte, dass die göttlichen Personen sich durch ihre Beziehungen unterscheiden, aber die gleiche göttliche Wesenheit teilen. In seinen Worten:
„Die göttlichen Personen sind ineinander aufgrund der Circuminsessio.“ (ST I, q.42, a.5)
Die westliche Theologie verwendete manchmal den lateinischen Begriff Circuminsessio (lateinisch für Perichorese), um dieselbe Wirklichkeit auszudrücken. In beiden Fällen ist das Geheimnis kein logisches Rätsel, sondern ein Lobgesang auf eine Liebe, die sich ewig schenkt und empfängt.
3. Die Dreifaltigkeit als ewiger Tanz der Liebe
Stellen wir uns einen Kreis ohne Anfang und ohne Ende vor. Keine Hierarchie, kein Egoismus, kein Wettbewerb. Nur Gemeinschaft, Hingabe, vollkommene Gegenseitigkeit. Das ist die Perichorese: Der Vater schenkt sich ganz dem Sohn, der Sohn schenkt sich dem Vater, und diese Liebe ist so real, so lebendig, so persönlich… dass sie der Heilige Geist ist.
Dieser „ewige Tanz“ ist keine Starrheit, sondern Bewegung. Keine Verschmelzung, sondern Beziehung. Die Dreifaltigkeit ist kein göttlicher Monolog, sondern ein ewiger Dialog der Liebe. Und das Wunderbare ist: Wir sind eingeladen, an diesem Dialog teilzunehmen.
Wie der heilige Augustinus sagt, ist der Heilige Geist das „Band der Liebe“ zwischen dem Vater und dem Sohn (vinculum amoris), und eben dieser Geist wohnt durch die Gnade der Taufe in unseren Herzen (vgl. Röm 5,5).
4. Pastorale Bedeutung: Warum sollte dich das heute betreffen?
a) Ein Modell für menschliche Beziehungen
Wenn Gott in seinem innersten Wesen Gemeinschaft ist, dann findet auch das menschliche Leben seine Erfüllung in Gemeinschaft. Familie, Freundschaft, Ehe, gemeinschaftliches Leben: Alle unsere Beziehungen sind dazu berufen, diese trinitarische Wirklichkeit widerzuspiegeln.
Die Perichorese lehrt uns: Personsein bedeutet, in Beziehung zu sein. Wir existieren nicht als Inseln, sondern als Wesen, die auf andere hin geöffnet sind.
b) Ein Schlüssel zur Einheit in der Kirche
In einer zerrissenen Welt, in der selbst Christen gespalten sind, ist die Perichorese eine kraftvolle Erinnerung: Einheit bedeutet nicht Uniformität, sondern Liebe, die die Vielfalt umfasst.
So wie der Vater, der Sohn und der Heilige Geist verschieden und doch untrennbar sind, so sind auch wir – mit unseren Charismen und Empfindsamkeiten – berufen, in Einheit des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu leben.
c) Eine Inspiration für das geistliche Leben
Das Gebet hört auf, eine einsame Übung zu sein, und wird zur Teilhabe am trinitarischen Leben. Wie der heilige Paulus sagt:
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20)
Durch die heiligmachende Gnade werden wir in das Herz dieses Geheimnisses hineingezogen. Unsere Seele ist – wenn sie im Stand der Gnade ist – eine „Wohnung“ der Dreifaltigkeit (vgl. Joh 14,23). Jedes Mal, wenn wir beten, lieben, dienen… tanzen wir im Rhythmus Gottes.
5. Praktische Anwendungen: Die Perichorese heute leben
- Im persönlichen Gebet: Bete trinitarisch. Wende dich durch den Sohn im Heiligen Geist an den Vater. Spüre, dass du nicht zu einem fernen Gott sprichst, sondern an einem ewigen Liebesdialog teilnimmst.
- In der Familie: Lass dich von der trinitarischen Gemeinschaft inspirieren. Sei ein Spiegelbild dieser gegenseitigen Hingabe, dieser bedingungslosen Annahme, dieser Liebe, die sich nicht verschließt.
- In der christlichen Gemeinschaft: Fördere Einheit ohne Gleichmacherei. Höre zu, arbeite mit anderen zusammen, führe Dialoge. Lass die Perichorese nicht nur ein theologisches Konzept sein, sondern eine kirchliche Erfahrung.
- Im Alltag: Frage dich: Handle ich aus dem Ego oder aus der Logik der Beziehungs-Liebe? Die Dreifaltigkeit lädt uns ein, aus uns selbst herauszugehen.
6. Ein Geheimnis, das uns verwandelt
Die Perichorese zu verstehen, bedeutet nicht, eine mathematische Formel zu lösen, sondern die Seele für ein Geheimnis zu öffnen, das uns umhüllt. Wie wenn man sich von einer Musik mitreißen lässt, die man nicht erklären, aber erleben kann.
Der Katechismus der Katholischen Kirche fasst dieses Geheimnis in wunderschönen Worten zusammen:
„Gott ist Liebe: in sich selbst lebt er ein Geheimnis personaler Liebesgemeinschaft. Indem er uns nach seinem Bild geschaffen hat… hat Gott uns bestimmt, an seinem eigenen Leben teilzuhaben.“ (KKK 2331)
Wenn du also das nächste Mal das Kreuzzeichen machst, tu es mit diesem Bewusstsein: Du rufst einen Gott an, der Beziehung ist, der reine Liebe ist, der dich nicht zur Einsamkeit geschaffen hat, sondern dazu, ewig mit Ihm zu tanzen.
Schlusswort: Die Einladung ins Herz Gottes
Die Perichorese ist kein theologischer Luxus für Gelehrte. Sie ist ein persönlicher Ruf. Sie ist der Herzschlag Gottes selbst. Und du bist eingeladen, in diesen Rhythmus einzutreten.
Die Dreifaltigkeit ist kein Rätsel. Sie ist Heimat. Sie ist Familie. Sie ist Liebe in Bewegung. Und jedes Mal, wenn du liebst wie Jesus, vergibst wie der Vater oder tröstest wie der Heilige Geist, tanzt du in diesem Geheimnis. Du nimmst teil am ewigen „Tanz“ Gottes.
Wirst du dich mitreißen lassen?
„Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns eins sein.“
(Johannes 17,21)