Die Frage, ob die katholische Kirche „biblisch“ ist, wird oft in Gesprächen zwischen Gläubigen verschiedener christlicher Konfessionen gestellt, besonders im Kontext des ökumenischen Dialogs. Für viele ist die Bibel die Hauptquelle des christlichen Glaubens, doch die katholische Kirche legt auch großen Wert auf die Tradition als ergänzende Quelle der Offenbarung. Dieser Artikel soll das Verhältnis zwischen Bibel und Tradition aus der Sicht der Kirche beleuchten, indem er eine historische, theologische und spirituelle Analyse bietet, die es jedem ermöglicht, den Reichtum des katholischen Glaubens zu schätzen.
Die Bibel und die Tradition: Zwei Quellen der Offenbarung
1. Was sagt die Kirche über die Bibel?
Die katholische Kirche erkennt die Heilige Schrift als das geschriebene Wort Gottes an. Im Zweiten Vatikanischen Konzil bekräftigte die dogmatische Konstitution Dei Verbum, dass „alles, was die inspirierten Verfasser oder hagiographischen Schreiber aussagen, vom Heiligen Geist ausgesagt werden muss“ (DV 11). Die Bibel steht im Mittelpunkt der katholischen Lehre. Die Kirche lehrt jedoch auch, dass die Bibel nicht unabhängig von der Tradition und dem Lehramt interpretiert werden kann, da diese drei Dimensionen eine harmonische Einheit bilden.
- Bibel: Die Sammlung inspirierter Bücher, die die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Apokalypse erzählen.
- Tradition: Die lebendige Weitergabe der Frohen Botschaft, die von den Aposteln begonnen und von ihren Nachfolgern fortgeführt wurde.
- Lehramt: Der Lehrdienst der Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Papst, der die Schrift und die Tradition authentisch auslegt.
2. Was ist die Tradition?
Die Tradition ist keine Sammlung menschlicher Bräuche, sondern die lebendige Weitergabe des Glaubens. Bevor das Neue Testament geschrieben wurde, verbreitete sich der christliche Glaube mündlich und gemeinschaftlich. Jesus selbst hinterließ keine schriftlichen Aufzeichnungen; seine Botschaft wurde von den Aposteln bewahrt und zunächst mündlich, dann in den inspirierten Texten weitergegeben. Diese Tradition umfasst:
- Die Liturgie: Die Feier der Eucharistie und der Sakramente seit den frühesten Jahrhunderten.
- Die Kirchenväter: Schriften früher Christen wie Augustinus, Irenäus und Athanasius, die das Glaubensverständnis vertieften.
- Das Glaubensbekenntnis: Eine Zusammenfassung des christlichen Glaubens, formuliert in den frühen ökumenischen Konzilien.
Die Tradition ist also keine äußere Quelle zur Bibel, sondern derselbe Glaube in Aktion, erleuchtet durch den Heiligen Geist.
Geschichte: Wie entstand die Bibel in der Kirche?
Die katholische Kirche verkündet nicht nur die Bibel, sondern war auch aktiv an ihrer Entstehung beteiligt. In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurden die Bücher, die wir heute als das Neue Testament kennen, von der christlichen Gemeinschaft unter der Führung des Heiligen Geistes erkannt und ausgewählt.
1. Das Alte Testament und der jüdische Kanon
Die Kirche übernahm das Alte Testament vom jüdischen Volk. Die frühen Christen, insbesondere die griechischsprachigen, verwendeten jedoch die Septuaginta, die Bücher wie Weisheit, Tobit und die Makkabäer enthält – Bücher, die im hebräischen Kanon fehlen. Diese Bücher, die von Protestanten als „deuterokanonisch“ bezeichnet werden, bleiben ein integraler Bestandteil des katholischen Kanons.
2. Das Neue Testament
Die Evangelien und Briefe der Apostel zirkulierten über Jahrzehnte, bevor sie als Schrift anerkannt wurden. Erst im 3. und 4. Jahrhundert definierte die Kirche den biblischen Kanon, wie wir ihn heute kennen, basierend auf drei Hauptkriterien:
- Apostolizität: Der Text musste mit einem Apostel oder seiner Gemeinschaft verbunden sein.
- Übereinstimmung mit dem Glauben: Der Inhalt musste im Einklang mit der christlichen Tradition stehen.
- Liturgischer Gebrauch: Der Text musste in den Gottesdiensten der Kirche gelesen werden.
Auf dem Konzil von Karthago (397 n. Chr.) wurde der endgültige Kanon festgelegt, der 46 Bücher des Alten Testaments und 27 des Neuen Testaments umfasst.
Theologische Bedeutung: Schrift, Tradition und Lehramt
Das Verhältnis zwischen Schrift und Tradition ist nicht konkurrierend, sondern ergänzend. Beide entspringen derselben Quelle: dem Wort Gottes. Paulus schreibt an die Thessalonicher: „So steht also fest, Brüder, und haltet die Überlieferungen, die ihr gelernt habt, sei es durch unser Wort oder durch unseren Brief“ (2 Thessalonicher 2,15). Dieser Vers unterstreicht die Bedeutung der Tradition als legitimes Mittel zur Weitergabe des Glaubens.
Das Lehramt wiederum stellt sicher, dass diese Weitergabe dem ursprünglichen Evangelium treu bleibt. Ohne eine autoritative Auslegung besteht die Gefahr von Missverständnissen der Schrift, wie die Vielzahl divergierender Interpretationen in anderen christlichen Konfessionen zeigt.
Praktische Anwendungen: Die Bibel im Leben der Kirche
Ein katholischer Christ ist nicht nur dazu berufen, die Bibel zu lesen, sondern sie auch vollständig zu leben. Wie können Schrift und Tradition im Alltag integriert werden?
1. Gebetvolle Lektüre: Lectio Divina
Die Kirche fördert die Lectio Divina, eine Methode der geistlichen Lesung mit vier Schritten: Lesen, Meditieren, Beten und Kontemplieren. Dieser Ansatz ermöglicht es, dass das Wort Gottes unser Leben verwandelt.
2. Liturgische Teilnahme
Die katholische Liturgie ist durchdrungen von der Schrift. Von den Lesungen bis zu den eucharistischen Gebeten ist jede Messe eine lebendige Begegnung mit dem Wort Gottes.
3. Fortlaufende Bildung
Die Kirche ermutigt alle Gläubigen, ihr Wissen über die Bibel und die Tradition durch Katechese, lehramtliche Dokumente und spirituelle Begleitung zu vertiefen.
4. Zeugnis in der Welt
Das Wort Gottes zu leben, bedeutet, es in konkrete Taten umzusetzen: Nächstenliebe gegenüber Bedürftigen, Verteidigung der Menschenwürde und Sorge für die Schöpfung.
Symbolik in der Geschichte der Beziehung zwischen Kirche und Bibel
Die Geschichte der Kirche ist reich an Symbolen, die ihre Liebe zur Schrift und Tradition widerspiegeln:
- Das offene Buch: Es steht für die göttliche Offenbarung, die für alle zugänglich ist, aber eine vom Geist geleitete Auslegung erfordert.
- Das Kreuz und das Buch: In vielen Darstellungen Christi Pantokrator symbolisieren das Kreuz und das Buch die Einheit seines Opfers und seines Wortes.
- Der Leuchter: Er erinnert daran, dass die Bibel „eine Leuchte für unsere Schritte“ ist (Psalm 119,105), die den Weg zur Heiligkeit erleuchtet.
Schlussfolgerung: Eine biblische und lebendige Kirche
Die katholische Kirche ist nicht nur biblisch, sondern auch die Gemeinschaft, in der die Bibel entstanden und bewahrt wurde. Das Verständnis des Verhältnisses zwischen Schrift und Tradition hilft uns zu erkennen, dass der katholische Glaube weder starr noch in der Vergangenheit verharrt, sondern zutiefst lebendig ist und in der Lage, den Herausforderungen jeder Epoche zu begegnen. Als Christen sind wir berufen, uns in diesen geistlichen Reichtum zu vertiefen und zuzulassen, dass Gottes Wort und die lebendige Tradition unser Leben und die Welt verwandeln.