Die Braut im Hohelied: Eine Allegorie für Christus und seine Kirche?

„Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes! Ja, deine Liebe ist köstlicher als Wein.“
Hoheslied 1,2


Einleitung: Ein geheimnisvolles Buch voller göttlicher Liebe

Das Hohelied Salomos ist eines der rätselhaftesten und erhabensten Bücher der gesamten Heiligen Schrift. Traditionell König Salomo zugeschrieben, erscheint es auf den ersten Blick wie ein leidenschaftliches Liebesgedicht zwischen einer Braut und ihrem Geliebten. Doch bereits in den ersten Jahrhunderten des Christentums – und schon bei einigen jüdischen Rabbinern – wurde es als etwas viel Tieferes gedeutet: als mystische Allegorie, die die Liebe Gottes zu seinem Volk, und präziser, die Liebe Christi zu seiner Braut, der Kirche, offenbart.

Heute, in einer Welt, in der Liebe oft mit Begierde verwechselt wird und in der Treue in der Krise steckt, leuchtet dieses jahrtausendealte Buch wie eine Fackel. Es lädt uns ein, die wahre Liebe neu zu entdecken – jene Liebe, die brennt ohne zu verzehren, die sucht ohne zu besitzen, die wartet, sich hingibt, ausharrt. Sich zu fragen, ob die Braut im Hohelied die Kirche darstellt, ist also keine bloß literarische Neugier, sondern eine Frage, die unsere Sicht auf Gott, auf uns selbst und auf unser gelebtes Glaubensleben zutiefst verwandeln kann.


1. Ein Lied, inspiriert vom Feuer des Heiligen Geistes

Der hebräische Titel des Buches lautet Shir HaShirim, was „Lied der Lieder“ bedeutet – eine Superlativform: das schönste, das wichtigste Lied. Es ist nicht einfach ein romantisches Gedicht, sondern eine göttliche Poesie, inspiriert vom Heiligen Geist, wie der heilige Hieronymus betonte. Es ist ein Lied, das nur mit einem offenen, gnadenbereiten Herzen verstanden werden kann – in Gebet und Betrachtung.

Die patristische Tradition, insbesondere bei Origenes, dem heiligen Gregor von Nyssa und dem heiligen Bernhard von Clairvaux, sah in diesem Werk eine reiche Allegorie für die Liebe zwischen Christus und der Kirche oder zwischen Christus und der einzelnen Seele. Für den heiligen Bernhard ist das Hohelied der Übergang von Gesetz zu Liebe, vom Knecht zur Braut.


2. Wer ist die Braut?

Die Braut des Hohelieds ist die weibliche Hauptfigur des Gedichts. Sie sucht, liebt, begehrt, träumt, ruft, wartet. Sie ist keine passive Frau; sie ist eine aktive, mutige Liebende, die sich nicht scheut, bei Nacht auf die Suche nach ihrem Geliebten zu gehen.

Theologisch steht die Braut für:

  • Die universale Kirche, die auf das Kommen Christi, ihres Bräutigams, wartet. „Seine Braut hat sich bereit gemacht.“ (Offb 19,7)
  • Die einzelne Seele, die Gott im Gebet, in der dunklen Nacht des Glaubens, in der geistlichen Trockenheit sucht.
  • Die Jungfrau Maria, die vollkommene Braut, Unbefleckte und Treue, die das Ideal der mystischen Braut verkörpert.

In dieser dreifachen Lesart spricht uns die Figur der Braut alle an. Sind wir, wie sie, Seelen, die Christus lieben? Erwarten wir sein Kommen wie die Braut ihren Bräutigam? Leben wir unseren Glauben als heilige Romanze?


3. Die Braut-Allegorie durchzieht die ganze Schrift

Das Bild der Ehe zwischen Gott und seinem Volk durchzieht die ganze Bibel. Das Hohelied ist keine isolierte Ausnahme, sondern Teil einer tiefen und heiligen Tradition:

  • Im Buch Hosea ist Gott der betrogene Ehemann, dessen Frau (Israel) untreu wurde – und doch liebt er sie weiterhin.
  • In Jesaja 62,5 heißt es: „Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen.“
  • Im Evangelium stellt sich Christus selbst als Bräutigam dar (vgl. Mt 9,15).
  • Der heilige Paulus schreibt: „Dies ist ein großes Geheimnis; ich deute es auf Christus und die Kirche.“ (Eph 5,32)
  • Die Offenbarung des Johannes endet mit einer Hochzeit: „Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind.“ (Offb 19,9)

Der ganze Heilsplan ist letztlich eine Liebesgeschichte – ein göttliches Ehedrama. Gott hat den Menschen aus Liebe erschaffen. Die Sünde hat diese Einheit zerbrochen. Christus kam als Bräutigam, um seine Braut zu erlösen und sie mit seinem Blut zu reinigen. Und am Ende der Zeiten wird diese Liebe in der ewigen Hochzeit vollendet.


4. Praktische Anwendungen: Leben wie die Braut

a. Im Verlangen nach Christus leben

Die Braut im Hohelied gibt sich nicht mit einem lauwarmen Leben zufrieden. „Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt.“ (Hld 3,1) Diese Sehnsucht, dieses Verlangen, dieses unermüdliche Suchen soll auch unser Herz prägen. Der Glaube ist keine Ideologie, keine Tradition – er ist eine Liebesgeschichte. Wie sehr suchen wir Christus wirklich in unserem Alltag?

Pastoraler Ratschlag: Reserviere jeden Tag einen Moment für eine „Begegnung“ mit Christus – in der Eucharistie, im stillen Gebet oder beim Lesen des Evangeliums. Pflege dieses Verlangen.

b. Treue in den Prüfungen

Die Braut leidet, wird missverstanden, geht durch die Nacht, sucht und findet nicht… aber sie gibt nicht auf. Sie ist das Bild der verfolgten Kirche, der angefochtenen Seele, des Gläubigen, der nichts sieht und dennoch glaubt.

Pastoraler Ratschlag: In den dunklen Nächten der Seele, wenn Gott fern scheint, gib das Suchen nicht auf. Dort wird die Liebe geläutert. Sprich mit deinem Beichtvater, bete mit den Psalmen, halte durch.

c. Innere Schönheit: Reinheit und Heiligkeit

„Ganz schön bist du, meine Freundin, kein Makel haftet dir an.“ (Hld 4,7) Dieser Vers wurde auf Maria, die Unbefleckte, angewandt, aber auch auf die verherrlichte Kirche. In einer Zeit, in der äußeres Erscheinungsbild überbewertet wird, erinnert uns das Hohelied an die Schönheit der Heiligkeit, der Reinheit, eines reinen Herzens.

Pastoraler Ratschlag: Übe täglich die Gewissenserforschung. Vertraue der Beichte als Sakrament innerer Schönheit. Reinheit ist keine Unterdrückung, sondern die Freiheit einer liebenden Seele.

d. Eucharistische Kommunion: Der Kuss des Geliebten

„Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes…“ – diese Zeile wurde von den Heiligen mystisch und theologisch als Symbol der Kommunion gedeutet. Der Kuss Gottes an die Seele verwirklicht sich in der Eucharistie: reale Gegenwart, reale Liebe, reale Berührung.

Pastoraler Ratschlag: Bereite dich bewusst auf die Heilige Kommunion vor. Mach sie nicht zur kalten Gewohnheit, sondern zu einem Akt bewusster Liebe. Verehre ihn von ganzem Herzen. Bleibe nach dem Empfang still, um den Geliebten zu „hören“.


5. Geistlicher Leitfaden: Braut sein – Kirche sein

1. Erkenne dich als Braut Christi

  • Lies das Hohelied langsam, als ob jeder Vers an dich gerichtet wäre.
  • Schreibe einen Liebesbrief an Christus: Drücke dein Verlangen, deine Suche, deinen Schmerz, deine Freude aus.

2. Schmücke deine Seele

  • Monatliche Beichte, tägliches Gebet, konkrete Nächstenliebe.
  • Liebe die Liturgie: verschönere dein geistliches Umfeld wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam schmückt.

3. Liebe die Kirche

  • Kritisiere die Kirche nicht von außen: liebe sie, wie Christus sie liebt.
  • Engagiere dich in deiner Pfarrei: sei ein aktiver Teil der wartenden Braut.

4. Lebe die Liebe als Berufung

  • In deiner Ehe, deiner Weihe oder deinem Zölibat: die mystische Vereinigung mit Christus ist dein letztliches Ziel.
  • Lebe deine Berufung als Antwort der Liebe. Nicht als Pflicht, sondern als Vereinigung mit deinem Geliebten.

Schlusswort: Die Liebe, die nie vergeht

„Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm! Denn stark wie der Tod ist die Liebe…“ (Hld 8,6). So endet das Hohelied Salomos. Nicht mit einer Hochzeitszeremonie, nicht mit einem Fest, sondern mit der Erklärung einer ewigen Liebe – stärker als der Tod. So liebt Christus dich, seine Kirche, jede einzelne Seele.

Und du – willst du seine Braut sein?
Willst du deinen Glauben als Liebesgeschichte leben?
Willst du ihn selbst in der Nacht suchen, auf sein Kommen warten und wirklich sagen können: „Komm, Herr Jesus“?


Schlussgebet

Herr Jesus, Bräutigam meiner Seele,
lehre mich, dich zu lieben wie die Braut im Hohenlied.
Lass mich dich mit meinem ganzen Wesen suchen,
auf dein Kommen warten wie auf die Morgenröte.
Mache mein Leben zu einem Liebeslied,
und meine Seele zu einer Wohnung für dich.
Amen.

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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