Anamnese: Wie die Eucharistie die Zeit durchbricht (Sie ist nicht nur ein Erinnern)

Ein theologischer und spiritueller Leitfaden zum Verständnis des Zeitgeheimnisses in der Heiligen Messe


Einleitung: Ist die Eucharistie nur ein Erinnern?

Für viele Katholiken von heute – besonders in einer Welt, die von Unmittelbarkeit, Technologie und der Logik des „Hier und Jetzt“ beherrscht wird – ist es schwer zu begreifen, wie etwas, das vor über zweitausend Jahren geschehen ist, heute eine reale und verwandelnde Gegenwart haben kann. Für manche erscheint die Messe wie eine symbolische Gedenkfeier oder eine fromme Handlung mit spirituellem Wert, aber losgelöst vom ursprünglichen Ereignis: dem Leiden, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi.

Doch die Kirche lehrt seit apostolischer Zeit etwas weitaus Radikaleres und Tieferes: In jeder Messe wird Christus wirklich gegenwärtig, das Opfer von Golgotha wird gegenwärtig gemacht, und der Himmel berührt die Erde. Wir erinnern uns nicht nur an ein vergangenes Ereignis, sondern wir nehmen wirklich daran teil. Das ist der Schlüsselbegriff der Anamnese, ein Wort, das unsere Beziehung zur Eucharistie – und zur Zeit selbst – vollständig verändern kann.


I. Was bedeutet „Anamnese“? Ein Wort, eine ganze Welt

Der Begriff Anamnese stammt vom griechischen Wort ἀνάμνησις, was „Erinnerung“ bedeutet – aber nicht im oberflächlichen Sinn eines nostalgischen Zurückdenkens oder eines Fotos. In der biblischen und liturgischen Theologie hat die Anamnese eine viel tiefere und existenziellere Bedeutung: Sie ist ein Erinnern, das gegenwärtig macht, ein Akt des lebendigen Gedächtnisses, das die Grenzen der Zeit durchbricht.

In der Messe, wenn der Priester sagt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19), ist das griechische Wort, das verwendet wird, anamnesin. Christus fordert nicht bloß eine liebevolle Erinnerung. Er setzt ein Ritus ein, der durch die Kraft des Heiligen Geistes sein Erlösungsopfer bei jeder eucharistischen Feier gegenwärtig macht. Was einmal in der Geschichte geschah, wird im Geheimnis gegenwärtig.


II. Die biblische Wurzel des „Erinnerns, das gegenwärtig macht“

Die Idee der Anamnese ist im Christentum nicht neu. Schon im Alten Testament begegnen wir dieser Dimension der heiligen Zeit. Das deutlichste Beispiel ist die Feier des jüdischen Pascha. Gott befiehlt seinem Volk, jedes Jahr das Pascha „zum Gedächtnis“ (zikkaron) seines Auszugs aus Ägypten zu feiern – aber nicht als bloße Erinnerung.

„Dieser Tag soll für euch ein Gedenktag sein; ihr sollt ihn als Fest für den Herrn feiern … als ewige Satzung.“ (Exodus 12,14)

Im hebräischen Denken aktualisiert dieses liturgische Gedenken das heilbringende Ereignis. Jede Generation nimmt am Exodus teil, als ob sie ihn persönlich erleben würde. Das biblische zikkaron ist ein Gegenwärtigmachen dessen, was Gott getan hat, eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, um es zu verwandeln.

Christus greift diese paschale Struktur auf und erfüllt sie vollkommen: Er ist das wahre Lamm, das wahre Pascha, der wahre Exodus aus der Sünde ins neue Leben. Sein Opfer, vollkommen wie es ist, wird nicht wiederholt, sondern in jeder Eucharistiefeier gegenwärtig gemacht.


III. Der Katechismus bestätigt es: Die Eucharistie – ein Mysterium, das die Zeit überwindet

Die Kirche lehrt diese Wahrheit klar im Katechismus der Katholischen Kirche:

„Die Eucharistie ist also ein Gedächtnis im Sinne der Heiligen Schrift: Es ist nicht nur die Erinnerung an vergangene Ereignisse, sondern deren liturgische Feier, in der sie auf gewisse Weise gegenwärtig und aktuell werden.“ (KKK 1363)

Und weiter:

„Das Opfer Christi und das Opfer der Eucharistie sind ein einziges Opfer: ,Die Opfergabe ist ein und dieselbe: Derselbe, der sich damals am Kreuz dargebracht hat, bringt sich jetzt durch den Dienst der Priester dar; nur die Weise des Darbringens ist verschieden.‘“ (KKK 1367)

Das bedeutet: Wenn wir an der Messe teilnehmen, wohnen wir nicht einer Aufführung oder Wiederholung bei, sondern wir treten in das Geheimnis von Golgotha ein, in das eine, einmalige und erlösende Opfer Christi, das nun außerhalb der Zeit, aber innerhalb unserer Geschichte durch das Sakrament gegenwärtig ist.


IV. Die Zeit durchbrechen: Die Ewigkeit im Alltag leben

Wie ist das möglich? Die Antwort ist zutiefst spirituell und theologisch: Die Liturgie ist der Ort, an dem menschliche Zeit und göttliche Ewigkeit sich begegnen. Johannes Paul II. drückte es so aus:

„Die Liturgie ist nicht nur das Gedenken vergangener Ereignisse, sondern ihre lebendige Gegenwart. Das Paschamysterium Christi ist ein reales, historisches Ereignis, das in der Liturgie gegenwärtig und zeitgenössisch wird.“
(Apostolisches Schreiben „Dies Domini“, 1998)

Diese Zeitgenossenschaft des österlichen Mysteriums macht die Messe nicht bloß zu einem frommen Akt, sondern zu einem echten Einbruch des Himmels in die Erde, zu einem Tor zur Ewigkeit. Jede Messe ist ein Fenster zum „Heute“ Gottes, in dem es kein Gestern oder Morgen gibt, sondern ewige Gegenwart.


V. Die Eucharistie: Heilmittel gegen das moderne Vergessen

Heute, in einer Gesellschaft, die in ständiger Beschleunigung lebt, wo die Vergangenheit schnell vergessen und die Zukunft unsicher ist, stellt sich die Eucharistie als spiritueller Anker dar. Hier entdeckt der Gläubige seine Geschichte, seine Identität und seine endgültige Bestimmung neu. Hier wird die Liebe, die ihn erlöst hat, gegenwärtig – nicht als Idee, sondern als reale und lebendige Gegenwart.

Mit diesem Bewusstsein an der Messe teilzunehmen, ist eine spirituelle Revolution. Es bedeutet, die Gegenwart von der Ewigkeit her zu leben, jeden Moment vom Licht des Kreuzes und der Auferstehung erhellen zu lassen. Es bedeutet, jede Messe zu einer Begegnung zu machen, die die lineare Zeit durchbricht und sie in Kairos, Zeit der Gnade, verwandelt.


VI. Praktische Konsequenzen: Wie man die Anamnese im Alltag lebt

Die eucharistische Anamnese zu verstehen und zu leben ist nicht nur eine theologische Frage: Sie ist ein tiefer und verwandelnder christlicher Lebensstil. Hier einige konkrete Anwendungen:

  1. Mit voller Bewusstheit zur Messe gehen: Zu wissen, dass man nicht bloß eine „Pflicht erfüllt“ oder sich „erinnert“, sondern aktiv am Kreuz und an der Auferstehung teilnimmt. Die Messe ist nicht „über“ etwas – sie ist dieses Etwas.
  2. Das eigene Leben auf dem Altar darbringen: In der eucharistischen Anamnese wird nicht nur Christus dargebracht – auch der Gläubige vereint sich mit seinem Opfer. Jeder Schmerz, jede Freude, jede Arbeit, jedes Leiden kann auf den Altar gelegt und verwandelt werden.
  3. Jeden Tag als Verlängerung der Messe leben: Wenn die Eucharistie die Zeit durchbricht, kann auch unser Alltag verwandelt werden, wenn wir in Gnade, Anbetung und Hingabe leben.
  4. Mit Glauben an die reale Gegenwart anbeten: Die eucharistische Anbetung ist kein leerer frommer Akt, sondern eine Erfahrung des gleichen Christus, der in der Messe gegenwärtig wurde. Sie ist ein Akt des Glaubens an das Geheimnis, das die Zeit übersteigt.

VII. Anamnese und Hoffnung: Der Himmel hat schon begonnen

Paulus drückt es kraftvoll aus:

„Denn sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1 Korinther 11,26)

Das heißt: Jede Messe macht nicht nur Golgotha gegenwärtig, sondern antizipiert die Parusie, das Wiederkommen Christi in Herrlichkeit. In jeder Eucharistie kosten wir bereits vom Hochzeitsmahl des Lammes, vom Himmel, der uns erwartet.

In der Anamnese zu leben heißt, mit Hoffnung zu leben. Es bedeutet: Das Reich Gottes hat bereits begonnen, auch wenn es noch nicht vollendet ist. Die Eucharistie ist der Motor der Geschichte, das Zentrum der Welt, wo alles seinen Sinn findet und wohin alles strebt.


Schlussfolgerung: Es ist nicht nur ein Erinnern – es ist das Leben selbst

Den Sinn der Anamnese in der Eucharistie neu zu entdecken, heißt das Staunen vor dem Geheimnis wiederzufinden; es heißt, aus der Oberflächlichkeit auszubrechen und in die Tiefe der Liebe Gottes einzutreten, die sich hier und jetzt in jeder Messe gegenwärtig macht.

Wir nehmen nicht an einem Theaterstück oder symbolischen Ritus teil. Wir betreten das Geheimnis der Geheimnisse, das erlösende Opfer, das gegenwärtig wird, uns verwandelt und uns als Zeugen in die Welt sendet.

Wenn du das nächste Mal zur Messe gehst, denk daran: Du reist nicht in die Vergangenheit – du wirst in die Ewigkeit hineingenommen. Und diese Ewigkeit ist erfüllt von der Liebe eines Gottes, der sich hingibt, sich bricht und sich für dich schenkt.


Abschließendes Gebet

Herr Jesus,
Du machst in jeder Eucharistie Dein Opfer am Kreuz gegenwärtig,
lehre mich, in der Wahrheit Deiner realen Gegenwart zu leben.
Möge jede Messe für mich eine lebendige Teilnahme an Deinem Opfer sein,
eine Begegnung mit Dir,
eine Erfahrung Deiner ewigen Liebe, die die Zeit verwandelt.
Lass mich niemals gleichgültig gegenüber dem Geheimnis werden,
und mache mein ganzes Leben zu einer Anamnese Deiner Liebe.
Amen.

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Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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