Einleitung: Ein Hymnus, der noch immer zur Seele spricht
In einer Welt, die unaufhörlich hetzt und das Heilige leicht vergisst, erklingt eine leise, aber kraftvolle Melodie weiterhin in Kapellen, Kirchen und in den Herzen der Gläubigen: das „Tantum Ergo“. Zwei lateinische Worte, die Jahrhunderte des Glaubens, des Mysteriums und der Anbetung in sich tragen. Dieser Hymnus, komponiert von einem der größten Theologen der katholischen Kirche, dem heiligen Thomas von Aquin, ist kein bloßes Überbleibsel vergangener Zeiten, sondern ein geistlicher Schlüssel, der das Herz für die wirkliche Gegenwart Christi in der Eucharistie öffnet.
Dieser Artikel ist eine Einladung, innezuhalten, zuzuhören und zu betrachten. Das „Tantum Ergo“ neu zu entdecken – nicht als ein Lied, das man nur bei der Aussetzung des Allerheiligsten singt, sondern als ein tiefes theologisches Gebet, das deine Art, den Glauben zu leben, mitten im Lärm des 21. Jahrhunderts verändern kann.
1. Die Herkunft des „Tantum Ergo“: Der heilige Thomas und Fronleichnam
Das „Tantum Ergo“ ist in Wirklichkeit der letzte Teil des längeren Hymnus „Pange Lingua Gloriosi Corporis Mysterium“, den der heilige Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert auf Bitten von Papst Urban IV. verfasste, der das Fronleichnamsfest für die ganze Kirche eingeführt hatte.
Der Auftrag war nicht gering: Das eucharistische Geheimnis zu feiern, die Wahrheit, dass Christus wirklich – mit Leib, Blut, Seele und Gottheit – im Allerheiligsten Sakrament des Altares gegenwärtig ist. Der heilige Thomas, der „Doctor Angelicus“, griff nicht zu abstrakten Spekulationen, sondern hüllte die höchste Theologie in eine poetische, mystische und tief ergreifende Sprache.
Das „Tantum Ergo“ wird traditionell während der eucharistischen Anbetung, unmittelbar vor dem eucharistischen Segen, gesungen. Es ist eine Form der Ehrfurcht und Hingabe vor demjenigen, der unter den Gestalten des Brotes verborgen ist.
2. Vollständiger Text des Tantum Ergo (Latein und Deutsch)
TANTUM ERGO SACRAMENTUM
VENEREMUR CERNUI
ET ANTIQUUM DOCUMENTUM
NOVO CEDAT RITUI
PRAESTET FIDES SUPPLEMENTUM
SENSUUM DEFECTUI.
GENITORI GENITOQUE
LAUS ET IUBILATIO
SALUS, HONOR, VIRTUS QUOQUE
SIT ET BENEDICTIO
PROCEDENTI AB UTROQUE
COMPAR SIT LAUDATIO.
Amen.
ÜBERSETZUNG INS DEUTSCHE:
EIN SO GROSSES SAKRAMENT
LASST UNS EHRFÜRCHTIG VEREHREN,
UND DAS ALTE BUNDESZEICHEN
WEICHE DEM NEUEN RITUS;
DER GLAUBE MÖGE ERGÄNZEN,
WAS DEN SINNEN FEHLT.
DEM VATER UND DEM SOHN
SEI LOB UND JUBEL,
HEIL, EHRE, KRAFT AUCH
UND SEGEN;
DEM, DER VON BEIDEN AUSGEHT,
GELTE GLEICHER LOBPREIS.
Amen.
3. Ein theologisches Juwel: Was sagt uns das Tantum Ergo?
a. „Tantum ergo Sacramentum veneremur cernui“: Lasst uns ehrfürchtig anbeten
Der heilige Thomas beginnt mit einer klaren Einladung: Lasst uns ehrfürchtig niederfallen vor diesem großen Sakrament. Die körperliche Haltung der Anbetung (Knien, sich Verbeugen) wird zum Ausdruck einer inneren Haltung: Demut, Ehrfurcht, Staunen.
„Vor ihm werden sich alle beugen, die in den Staub sinken.“ (Psalm 22,30)
In einer Kultur, die Autonomie vergöttert und Unterwerfung ablehnt, erinnert uns das Tantum Ergo daran, dass wahre Freiheit beginnt, wenn wir Christus als Herrn anerkennen, besonders in der Eucharistie.
b. „Et antiquum documentum novo cedat ritui“
Der Alte Bund mit seinen Vorzeichen (wie dem Manna in der Wüste) weicht dem Neuen Bund, der in Christus vollendet ist und sich in der Eucharistie fortsetzt. Wir leben nicht mehr von Symbolen, sondern von der lebendigen Gegenwart Jesu.
Thomas betont hier die Kontinuität und Erfüllung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Auf dem Altar berühren sich Himmel und Erde, und die Vergangenheit erfüllt sich im ewigen Jetzt Gottes.
c. „Praestet fides supplementum sensuum defectui“
Dieser Satz ist eine vollkommene Zusammenfassung des katholischen eucharistischen Realismus: Wenn die Sinne versagen (wir sehen nicht, wir tasten nicht, wir erkennen nicht klar), ergänzt der Glaube, was fehlt. Wir sehen Jesus nicht mit den Augen des Körpers, aber mit den Augen des Glaubens.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Johannes 20,29)
Das Tantum Ergo bildet uns in einer Spiritualität des tiefen Glaubens, gegen die moderne Versuchung des „Sehen, um zu glauben“. Hier heißt es: „Glauben, um zu sehen“ – über das Sichtbare hinaus.
d. Schlussdoxologie: Trinitarischer Lobpreis
Die zweite Strophe preist den Vater (Genitori), den Sohn (Genitoque) und den Heiligen Geist (Procedenti ab utroque). Wir beten nicht ein Ding, ein Symbol oder eine Idee an, sondern den dreifaltigen Gott selbst, der im Sakrament gegenwärtig ist.
Das Ende des Hymnus ist reiner Lobpreis: Heil, Ehre, Kraft, Jubel, Segen. Alles, was wir sind, wird zu Lobpreis, wenn wir vor dem Allerheiligsten stehen.
4. Praktische Anwendungen: Wie kann man das Tantum Ergo heute leben?
a. Den Sinn der Anbetung wiederentdecken
In vielen Pfarreien ist die eucharistische Anbetung seltener geworden oder hat an feierlichem Charakter verloren. Das Tantum Ergo erinnert uns daran, dass Anbetung nicht optional ist, sondern lebenswichtig. Die persönliche und gemeinschaftliche Anbetung neu zu entdecken, verändert das Leben.
Frage dich: Wann warst du zuletzt in Stille vor dem Allerheiligsten?
b. Sich im Schweigen und im Geheimnis schulen
Wir leben umgeben von Reizen, aber die Eucharistie lehrt uns im ehrfürchtigen Schweigen und in der Betrachtung. Das Tantum Ergo langsam zu beten, darüber zu meditieren, seine Worte in die Seele eindringen zu lassen – das ist eine geistliche Übung für jeden Gläubigen.
c. Den eucharistischen Glauben stärken
In Zeiten von doktrinärer und liturgischer Verwirrung, in denen sogar die reale Gegenwart Christi in Frage gestellt wird, ist das Tantum Ergo ein Gegengift: ein klares und kräftiges Bekenntnis, dass Christus wirklich gegenwärtig ist.
Lehre diesen Hymnus deinen Kindern. Sing ihn mit deiner Familie. Lass ihn Teil deines geistlichen Alltags werden.
d. Liturgie und Katechese erneuern
Das Tantum Ergo sollte Teil der liturgischen und katechetischen Ausbildung sein. Es ist zugänglich, schön und tiefgründig. Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen kann sein Inhalt das Herz für das eucharistische Geheimnis öffnen – mit einer Kraft, die abstrakte Vorträge oft nicht erreichen.
5. Schlusswort: „Lasst uns niederfallen in Anbetung“
Das Tantum Ergo ist nicht nur ein Lied aus der Vergangenheit. Es ist ein Glaubensbekenntnis, ein Akt der Liebe, eine Schule der Anbetung. In Zeiten geistlicher Oberflächlichkeit bringt uns dieser Hymnus zurück zum Wesentlichen: zu Christus, der in der Eucharistie gegenwärtig ist.
Es neu zu entdecken, zu meditieren und zu leben, kann ein kleiner Akt des Widerstands gegen die moderne Gleichgültigkeit sein. Es ist der stille Ruf der treuen Anbeter, die – wie der heilige Thomas – wissen, dass dort, in der konsekrierten Hostie, der ganze Himmel wohnt.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24)
Möge jedes Mal, wenn du das Tantum Ergo betest, deine Seele sich in Demut beugen und dein Herz sich mit Staunen füllen, im Wissen, dass du vor dem gleichen Gott stehst, der das Universum erschaffen hat und der für dich Brot geworden ist.