Trägheit (Apathie): Die „produktive“ Prokrastination. Wenn man die Tastatur putzt, um dem wirklich Wichtigen auszuweichen

Einleitung: Die subtile Kunst, dem Wesentlichen aus dem Weg zu gehen

Es ist Samstagmorgen. Du musst diesen Bericht schreiben, einen Vortrag für die Pfarrgruppe vorbereiten, für eine Theologieprüfung lernen oder einfach beten. Aber zuerst beschließt du, deinen Schreibtisch aufzuräumen. Und wenn du schon dabei bist, putzt du die Tastatur gründlich mit Wattestäbchen und Alkohol. Dann sortierst du deine Computerdateien, überprüfst E-Mails, aktualisierst den Kalender, schaust dir etwas „produktiven“ Inhalt auf YouTube an… und der Tag ist vorbei.

Du fühlst dich beschäftigt, vielleicht sogar tugendhaft. Aber tief im Inneren weißt du: Du hast das Wesentliche nicht getan.

Dieses Phänomen hat einen Namen: die moderne Trägheit, verkleidet als Nützlichkeit. Oder, wie die geistliche Tradition es seit Jahrhunderten nennt: Acedia, eine Form innerer Apathie, die uns dazu bringt, dem tiefen Auftrag auszuweichen – dem göttlichen Ruf zu dem, was unsere Seele wirklich verwandelt.


I. Trägheit: Ein missverstandenes Laster

Wenn wir an Trägheit denken, stellen wir uns jemanden vor, der faul auf dem Sofa liegt und nichts tut. Aber das ist eine oberflächliche Sichtweise. Das wahre Gesicht der Trägheit ist viel schwerer zu erkennen – und gefährlicher.

Was ist Trägheit?

In der moralischen Theologie ist Trägheit eine geistliche Widerwilligkeit gegenüber dem Guten, das wir tun sollen. Der heilige Thomas von Aquin beschreibt sie als „tristitia de bono divino“ – Traurigkeit gegenüber dem göttlichen Guten. Trägheit bedeutet also nicht einfach Nichtstun, sondern das Zurückweisen oder Aufschieben dessen, was wirklich zählt: inneres Wachstum, die Erfüllung unserer christlichen Pflichten, die Antwort auf Gottes Liebe.

Acedia: Alte Wurzel eines modernen Übels

Acedia, ein Begriff der Wüstenväter, bezeichnet diese tiefe Form der Trägheit – eine Mischung aus Langeweile, Zerstreuung, Flucht und Gleichgültigkeit. Der Mönch Evagrius Ponticus nannte sie „den Dämon am Mittag“: die Versuchung, die Zelle zu verlassen, aus dem Fenster zu schauen, Ausreden zu finden, um nicht zu beten oder das Wesentliche anzugehen. Im 21. Jahrhundert leben wir zwar nicht mehr in der Wüste – aber wir sind genauso abgelenkt.


II. Die „produktive“ Prokrastination: Trägheit im Gewand der Effizienz

Im digitalen Zeitalter zeigt sich Faulheit nicht mehr als Untätigkeit, sondern als fehlgeleitete Hyperaktivität. Wir tun vieles – aber wir vermeiden das, was wir wirklich tun sollten. Und wir rechtfertigen das mit scheinbar unanfechtbarer Logik: „Ich bin doch produktiv.“ Doch Produktivität ist nicht immer Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes.

Alltägliche Beispiele

  • Ein Seminarist, der stundenlang seine Notizen ordnet, aber das Stundengebet nicht betet.
  • Eine Mutter, die obsessiv die Wohnung putzt, statt mit ihrem jugendlichen Sohn zu sprechen.
  • Ein Priester, dessen Terminkalender voll mit Treffen ist, der aber die Stille der Anbetung meidet.
  • Ein Laie, der auf sozialen Medien geistliche Inhalte konsumiert, aber nie betet.

Die Tastatur ist sauber. Aber das Gebet blieb aus.
Der Schreibtisch ist aufgeräumt. Aber der Brief der Versöhnung ist nicht geschrieben.
Es war ein „Ich habe so viel gemacht“ – aber nicht das, was Gott heute von dir wollte.


III. Biblische Grundlage: Gott ruft uns zur Mitte, nicht zur Peripherie

Die Heilige Schrift ist eindeutig: Gott will nicht nur Aktivität, sondern Treue zu seinem Willen. Der Herr belohnt nicht die emsigen Diener, sondern jene, die seinen Willen tun.

„Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.“
(Matthäus 7, 21)

„Martha, Martha, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig.“
(Lukas 10, 41-42)

Martha war nicht untätig. Sie war beschäftigt – sogar mit guten Dingen. Aber sie war nicht beim Wesentlichen. Ihre Schwester Maria, zu Füßen des Meisters sitzend, hatte „den besseren Teil“ erwählt.


IV. Theologische und pastorale Relevanz: Der Kampf gegen das Seelenausweichen

Ein innerer Kampf

Geistliche Trägheit ist eine der sieben Hauptsünden, denn sie untergräbt das innere Leben. Es geht nicht nur um Faulheit – es geht um Widerstand gegen Wachstum, gegen Liebe, gegen Hingabe. Es ist die Flucht vor dem täglichen Kreuz, vor dem Einsatz für Gott und den Nächsten.

Häufige Ursachen

  • Fehlendes tiefes Verständnis christlicher Pflichten
  • Angst vor der inneren Leere
  • Lähmender Perfektionismus: „Wenn ich es nicht perfekt mache, lieber gar nicht“
  • Überbewertung von Nebensächlichkeiten

V. Ein praktischer Leitfaden gegen geistliche Trägheit

1. Das Wesentliche erkennen

Stelle dir jeden Morgen diese Frage:
Was erwartet Gott heute von mir, das – wenn ich es nicht tue – alles andere zweitrangig macht?

Erstelle eine Aufgabenliste und markiere das Wesentliche in Rot. Sonst putzt du die Tastatur, aber betest nicht.

2. Den Kreislauf durchbrechen – mit Entschlossenheit

Prokrastination ist wie ein Strudel: Je mehr man ihn füttert, desto stärker wird er. Der Ausweg? Eine konkrete, sofortige Handlung. Fange an, wenigstens fünf Minuten das zu tun, was du vermeidest. Der Heilige Geist wirkt in der Bewegung.

3. Mit demütiger Selbstüberwindung siegen

Du hast keine Lust? Umso besser! Biete diesen Kampf als innere Buße dar. Trägheit wird durch kleine, beständige Opfer besiegt – etwa indem du sofort aufstehst, ohne zu schlummern, oder betest, auch wenn deine Seele trocken ist.

4. Heilige Rituale etablieren

Schaffe unantastbare tägliche Gewohnheiten, zum Beispiel:

  • Beginne den Tag mit einem Bibelvers und einem Gebet
  • Habe eine feste Zeit für das persönliche Gebet
  • Reserviere wöchentlich stille Zeit für tiefe Einkehr

Beständigkeit besiegt den Dämon des Mittags.

5. Geistliche Begleitung suchen

Ein geistlicher Begleiter kann dir helfen, deine Energie- und Willenslecks zu erkennen und die falsche Aktivität aufzudecken, die Ausweichen kaschiert. Der Blick eines anderen deckt auf, was wir selbst kaum sehen.

6. Den Tag ehrlich reflektieren

Stelle dir abends folgende Fragen:

  • Habe ich das getan, was ich tun sollte – oder nur das, was leicht war?
  • Welche Teile meines Tages waren getarnte Flucht?
  • Wo war ich wirklich mit dem Herrn verbunden?

Die Gewissenserforschung ist das Schwert gegen die Trägheit.


VI. In der Perspektive der Ewigkeit leben

Gott will nicht, dass wir „viel tun“, sondern dass wir seinen Willen mit Liebe erfüllen. Die moderne Trägheit – die sich als Perfektionismus, Produktivität oder scheinbares Engagement tarnt – ist ein stiller Feind, der uns das innere Leben raubt.

Der heilige Paulus mahnt uns:

„Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein.“
(Epheser 5, 14)

Heute kann dieses Licht damit beginnen, dass du die Tastatur nicht putzt… sondern dich hinsetzt und betest.


Fazit: Tu zuerst das, was wirklich zählt

Das christliche Leben besteht nicht darin, „viel zu tun“, sondern Gott zu lieben – mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und aller Kraft. Das bedeutet, nein zu sagen zur Versuchung des Unwesentlichen – auch wenn es sich als Effizienz verkleidet.

Du hast die Tastatur geputzt? Gut. Aber vergiss nicht, dass es eine Seele gibt, die gereinigt werden will, ein Herz, das sich bekehren soll, einen Gott, der dir begegnen möchte.

Möge es nicht zu spät sein, mit der Flucht vor dem Wesentlichen aufzuhören.
Tu, was zählt. Heute.


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Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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