Ad Orientem: Ein Blick in die Zukunft der katholischen Liturgie

Im christlichen Leben ist die Art und Weise, wie wir die Liturgie feiern, weit mehr als eine Ansammlung von Ritualen und Traditionen. Jedes Element hat eine tiefgreifende Bedeutung, die unsere Beziehung zu Gott, zur Kirche und zur Gemeinschaft widerspiegelt. In diesem Kontext hat ein Aspekt, der in den letzten Jahren zunehmend theologische Aufmerksamkeit erhalten hat, besondere Bedeutung: die Ausrichtung des Zelebranten während der Messe, insbesondere die Praxis, die eucharistische Feier ad orientem, also „nach Osten gewandt“, zu feiern. Dieses Thema ist nicht nur für Liturgiefreunde von Interesse, sondern auch für alle Gläubigen, die ihre Teilnahme an der Messe und ihr Verständnis dafür vertiefen möchten.

Im Laufe der Geschichte hat die Kirche zahlreiche Veränderungen in der Feier der Messe erfahren. Eine der bedeutendsten Änderungen des 20. Jahrhunderts war die liturgische Reform, die durch das Zweite Vatikanische Konzil angestoßen wurde. Diese Reform führte zu einer Umgestaltung vieler liturgischer Elemente, einschließlich der Position des Priesters während der Feier. Doch die Frage, wie liturgische Orientierung zu verstehen ist, bleibt unter Theologen, Liturgiewissenschaftlern und Gläubigen ein Thema der Diskussion. Dieser Artikel widmet sich einer eingehenden Betrachtung des Konzepts Ad Orientem, seiner Geschichte, theologischen Bedeutung und der praktischen Anwendung in der geistlichen Alltagswelt der Gläubigen.


1. Die Geschichte der liturgischen Ausrichtung: Eine Reise gen Osten

Die Tradition, die Messe nach Osten hin zu feiern, geht auf die frühen Jahrhunderte des Christentums zurück. Von Anfang an glaubten Christen, dass das Schauen nach Osten die Erwartung der glorreichen Wiederkunft Christi symbolisierte, die nach der Schrift aus dieser Richtung erfolgen würde. Der Osten hat nicht nur eine geografische, sondern auch eine symbolische Bedeutung. In der Schrift wird Christus als die „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20) bezeichnet, und seine Wiederkunft ist mit dem Licht verbunden, das der Welt Heil bringt.

Von den frühesten christlichen Gemeinschaften an wurden Gebetsstätten, insbesondere Basiliken und Kirchen, gen Osten ausgerichtet. Die ersten christlichen Tempel wurden in Richtung Jerusalem erbaut, und später wurde die Ausrichtung nach Osten zu einer weit verbreiteten Praxis. Christen feierten die Eucharistie nach Osten gewandt als Zeichen der Hoffnung und der Erwartung der Wiederkunft Christi.

Dieses Muster festigte sich in den frühen Jahrhunderten der Kirche, selbst als die Messe nicht mehr in Privathäusern, sondern in öffentlichen Räumen gefeiert wurde. Die Orientierung nach Osten blieb eine gängige Praxis bis ins 16. Jahrhundert, als einige Kirchen in Europa begannen, ihre liturgischen Anordnungen zu ändern, insbesondere nach der protestantischen Reformation. In den folgenden Jahrhunderten variierte die Ausrichtung des Priesters während der Messe je nach kulturellem und liturgischem Kontext, doch die Orientierung nach Osten blieb ein zentrales Symbol christlicher Hoffnung.


2. Ein Perspektivwechsel nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) und seinem Dokument Sacrosanctum Concilium erlebte die katholische Kirche eine der bedeutendsten liturgischen Reformen ihrer jüngeren Geschichte. Das Hauptziel dieser Reform war es, die Liturgie für die Gläubigen zugänglicher und partizipativer zu gestalten. Eine der sichtbarsten Änderungen war die Einführung der Landessprachen anstelle des Lateins und die Neugestaltung der liturgischen Position des Zelebranten.

Im Zuge dieser Änderungen schlug das Konzil vor, dass der Priester der Gemeinde zugewandt stehen sollte, anstatt ad orientem zu zelebrieren. Dieser neue Ansatz, bekannt als „versus populum“, ermöglichte den Gläubigen eine direktere Verbindung mit dem Priester während der Messe. Dennoch schloss Sacrosanctum Concilium die Option, ad orientem zu zelebrieren, nicht aus; es ließ vielmehr die Möglichkeit offen, je nach pastoralen Präferenzen beide Ausrichtungen zu verwenden.

Im Laufe der Jahre übernahmen die meisten Kirchen die Praxis des Priesters, der der Gemeinde zugewandt ist, aber einige behielten die Tradition des ad orientem bei oder entschieden sich sogar bewusst für eine Rückkehr zu dieser Praxis als legitime liturgische Option.


3. Die theologische Bedeutung von Ad Orientem

Die Praxis, ad orientem zu zelebrieren, trägt eine tiefgehende theologische und symbolische Bedeutung. Sich während der Messe nach Osten zu wenden, ist nicht nur eine ästhetische oder rituelle Geste, sondern eine tiefgreifende Glaubensbekundung. Es lassen sich mehrere wichtige Bedeutungen erkennen, die unser Verständnis dieser liturgischen Tradition bereichern:

  • Die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi: Die Orientierung nach Osten ist ein Zeichen der aktiven Erwartung der Parusie, der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit am Ende der Zeiten. Diese Erwartung beschränkt sich nicht auf ein zukünftiges Ereignis, sondern auch auf die Gewissheit, dass Christus bereits in unserem Leben durch die Eucharistie gegenwärtig ist und dass seine Wiederkunft die vollständige Wiederherstellung der Schöpfung bringen wird. Das Schauen nach Osten erinnert uns daran, dass die Menschheitsgeschichte ein Ziel hat: die volle Offenbarung des Reiches Gottes.
  • Die Einheit der Kirche: Die Geste, dass alle Mitglieder der Gemeinde in dieselbe Richtung schauen, symbolisiert die Einheit der Kirche im Gebet und in der Anbetung Gottes. In diesem Sinne wird die Messe, die ad orientem gefeiert wird, zu einem Akt der Gemeinschaft, in dem Priester und Volk vereint sind, gemeinsam auf Gott ausgerichtet. Es ist kein Akt der Trennung, sondern ein Aufruf zur Einheit und zur gemeinsamen Ausrichtung auf Christus.
  • Christus als die Sonne der Gerechtigkeit: In der christlichen Tradition ist Christus die Sonne der Gerechtigkeit, die die gesamte Menschheit erleuchtet. Das Schauen nach Osten symbolisiert auch das Licht, das Christus der Welt bringt, und der Priester als alter Christus ist derjenige, der die Gemeinschaft zu diesem Licht führt, das in der Eucharistie gegenwärtig ist.

4. Praktische Anwendungen von Ad Orientem im geistlichen Leben

Obwohl die Art und Weise, wie wir die Messe feiern und die Ausrichtung des Priesters, auf den ersten Blick wie entfernte liturgische Details erscheinen mögen, haben sie tiefgehende praktische Implikationen für unser geistliches Leben.

  • Die Hoffnung kultivieren: Die Messe, die ad orientem gefeiert wird, lädt uns ein, immer nach vorne zu schauen, mit Hoffnung zu leben und niemals den Blick auf die Wiederkunft Christi zu verlieren. Diese Hoffnung ist keine passive Erwartung, sondern ein Aufruf, nach dem Evangelium zu leben, stets nach Gerechtigkeit, Frieden und Heiligkeit in unserem Alltag zu streben.
  • Den Fokus auf die Eucharistie legen: Die Eucharistie ist das Zentrum des christlichen Lebens. Die Bedeutung von ad orientem in Erinnerung zu rufen, kann unsere Teilnahme an der Messe vertiefen – nicht nur als gemeinschaftliche Aktivität, sondern als persönliche Begegnung mit Christus. So wie der Priester die Gemeinschaft zu Christus führt, sollten auch wir darauf bedacht sein, unsere persönliche Beziehung zu ihm zu vertiefen und uns in unserem täglichen Handeln stets auf ihn auszurichten.
  • Die christliche Gemeinschaft: Die Feier von ad orientem erinnert uns daran, dass das christliche Leben nicht individualistisch ist; wir sind Teil einer Gemeinschaft, die gemeinsam auf dasselbe Ziel zugeht: das Heil. Dieses Gemeinschaftsgefühl sollte sich in unseren täglichen Beziehungen widerspiegeln, indem wir stets Einheit, Respekt und gegenseitige Liebe unter allen Mitgliedern der Kirche suchen.

5. Die Zukunft von Ad Orientem in der Kirche

Heute erlebt die Praxis von ad orientem in einigen katholischen Gemeinschaften eine Wiederbelebung, insbesondere in Kontexten, in denen die Gläubigen eine tiefere Verbindung zur liturgischen Tradition suchen. Für viele bietet diese Art, die Messe zu feiern, eine größere spirituelle Dimension und ermöglicht es ihnen, sich stärker auf das Opfer Christi und die Anbetung Gottes zu konzentrieren.

Die Rückkehr zu ad orientem sollte jedoch nicht als Gegensatz zur liturgischen Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils gesehen werden, sondern als legitime Option, die das Leben der Kirche bereichern kann. Die Herausforderung für die Kirche besteht heute darin, ein Gleichgewicht zu finden, das sowohl die reiche liturgische Tradition respektiert als auch die aktive und bewusste Teilnahme aller Gläubigen fördert.


Fazit: Nach Osten blicken im christlichen Leben

Die Praxis, ad orientem zu zelebrieren, lädt uns ein, nach Osten zu blicken, zum Horizont, an dem Christus in seiner Herrlichkeit erscheinen wird und mit ihm das endgültige Heil für alle Menschen. Wenn wir an der Messe und am christlichen Leben teilnehmen, sollten wir mit dieser gleichen Ausrichtung leben: auf die Zukunft, auf die Hoffnung, auf Christus. In diesem Sinne ist ad orientem nicht nur eine Art, die Liturgie zu feiern, sondern eine Lebensweise. Mögen wir in der Ausübung unseres Glaubens immer nach Osten schauen, zur endgültigen Begegnung mit Christus, dem Licht, das unseren Weg erleuchtet und unserem Dasein Sinn gibt.

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

Auch ansehen

Der Basilikaschirm – Ein Symbol des Ruhms, der Demut und der Hoffnung in der Kirche

Einleitung: Ein Schirm, der das Geheimnis der Kirche schützt In einer oft übersehenen Ecke der …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

error: catholicus.eu