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Wie man die Heilige Schrift heute interpretiert: Schlüssel aus der Tradition der Kirche

Die Bibel steht im Mittelpunkt des geistlichen Lebens der Christen. Sie ist nicht nur der heilige Text, der den Heilsplan Gottes offenbart, sondern auch ein Leitfaden für unser tägliches Leben. Die Auslegung der Heiligen Schrift war jedoch schon immer eine komplexe Aufgabe, die im Laufe der Jahrhunderte zu unterschiedlichen Ansätzen, Fragen und Herausforderungen geführt hat. Heute, in einer zunehmend pluralistischen und komplexen Welt, ist es wichtiger denn je, sich der Bibel auf eine Weise zu nähern, die der Tradition der Kirche treu bleibt und gleichzeitig in unsere Zeit hinein spricht. In diesem Artikel bieten wir einige praktische Schlüssel für ein tiefes und geistliches Lesen der Heiligen Schrift an, in Übereinstimmung mit der Lehre der katholischen Kirche.

1. Der wörtliche und der geistliche Sinn: Zwei komplementäre Ansätze

Die katholische Kirche hat stets betont, dass die Auslegung der Heiligen Schrift sowohl den wörtlichen als auch den geistlichen Sinn der biblischen Texte berücksichtigen muss. Diese beiden Auslegungsebenen stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich.

Der wörtliche Sinn

Der wörtliche Sinn ist der Ausgangspunkt für jede biblische Lektüre. Dieser Sinn bezieht sich auf die Bedeutung, die der menschliche Autor, der vom Heiligen Geist inspiriert wurde, zur Zeit des Schreibens vermitteln wollte. Um diesen Sinn zu verstehen, ist es wichtig, den Text in seinen historischen, kulturellen und literarischen Kontext zu stellen. Wer hat ihn geschrieben? Wann und warum? Welches literarische Genre verwendet der Autor?

Wenn wir zum Beispiel die Gleichnisse Jesu lesen, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37), wissen wir, dass es sich nicht um einen historischen Bericht handelt, sondern um eine moralische Lehre, die eine symbolische Erzählung verwendet, um eine tiefgründige Botschaft über die Nächstenliebe zu vermitteln.

Der geistliche Sinn

Über den wörtlichen Sinn hinaus erkennt die Kirche einen geistlichen Sinn in der Heiligen Schrift, der in drei Ebenen unterteilt werden kann:

  • Der allegorische Sinn: Hierbei haben die in der Bibel erzählten Ereignisse nicht nur eine historische Bedeutung, sondern weisen auch auf andere Ereignisse hin. Zum Beispiel weist der Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer (Exodus 14) auf die christliche Taufe hin.
  • Der moralische Sinn: Die Heilige Schrift lehrt uns auch, wie wir gemäß den Geboten Gottes leben sollen. Sie gibt uns praktische und ethische Lektionen. Ein klares Beispiel ist die Bergpredigt, in der Jesus uns die Seligpreisungen (Matthäus 5, 1-12) vorstellt, die einen Weg zur Heiligkeit aufzeigen.
  • Der anagogische Sinn: Dieser Sinn bezieht sich auf die letzten Dinge, wie den Himmel und das ewige Leben. Er lädt uns ein, auf die Zukunft zu schauen, auf unsere Hoffnung auf ewige Herrlichkeit. Das Neue Jerusalem, das im Buch der Offenbarung beschrieben wird (Offb 21, 1-4), ist ein Symbol des ewigen Lebens mit Gott.

2. Die Einheit der Heiligen Schrift: Christus als Zentrum der Bibel

Ein grundlegender Schlüssel zum richtigen Verständnis der Heiligen Schrift ist das Erkennen ihrer inneren Einheit. Obwohl die Bibel aus verschiedenen Büchern besteht, die zu unterschiedlichen Zeiten und von verschiedenen Autoren verfasst wurden, sind sie alle vom selben Heiligen Geist inspiriert und haben einen gemeinsamen roten Faden: Jesus Christus.

Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt in seiner dogmatischen Konstitution Dei Verbum, dass „die Ökonomie des Alten Testaments in erster Linie darauf angelegt war, das Kommen Christi vorzubereiten, prophetisch anzukündigen und auf verschiedene Weise anzudeuten“. Daher weist die gesamte Bibel, von der Genesis bis zur Offenbarung, auf Christus hin. Beim Lesen des Alten Testaments ist es entscheidend, es im Licht des Neuen Testaments zu lesen und zu erkennen, wie die Verheißungen, Figuren und Prophezeiungen des Ersteren ihre Erfüllung in Christus finden.

Zum Beispiel deutet das Opfer Isaaks durch Abraham (Genesis 22) auf das Opfer Christi am Kreuz hin. Abraham, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern, ist ein Bild für Gott den Vater, der seinen einzigen Sohn für unsere Erlösung hingibt.

3. Die lebendige Tradition der Kirche: Ein Leitfaden zur Auslegung

Für Katholiken ist die Bibel kein isolierter Text, der völlig unabhängig interpretiert werden kann. Seit den frühesten Jahrhunderten des Christentums hat die Tradition eine entscheidende Rolle bei der Auslegung der Heiligen Schrift gespielt. Die Kirche, die vom Heiligen Geist geleitet wird, hat die Aufgabe, den authentischen Glauben zu bewahren und weiterzugeben, und diese Aufgabe umfasst auch die richtige Auslegung der Bibel.

Die Kirchenväter, wie zum Beispiel der heilige Augustinus und der heilige Hieronymus, haben unschätzbare Arbeit geleistet, indem sie tief in die Bedeutung der Heiligen Schrift eingedrungen sind. Sie haben uns, zusammen mit den Konzilien und Päpsten, ein Erbe an Lehren hinterlassen, das unser Bibelverständnis bis heute erhellt.

Ein praktisches Beispiel dafür, wie die Tradition hilft, die Heilige Schrift zu interpretieren, ist das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Obwohl dieses Dogma in der Bibel nicht explizit beschrieben wird, hat die Kirche es aufgrund theologischer Überlegungen und zentraler biblischer Stellen, wie dem Gruß des Engels an Maria in Lukas 1, 28 („Gegrüßet seist du, voll der Gnade“), definiert. Dieser Ausdruck „voll der Gnade“ wurde im Licht der Tradition als Hinweis darauf verstanden, dass Maria von ihrer Empfängnis an vom Erbsünde bewahrt wurde.

4. Das Lehramt und die Grundsätze der Auslegung

Das Lehramt der Kirche, also die Lehrgewalt, die vom Papst und den mit ihm verbundenen Bischöfen ausgeübt wird, hat die Aufgabe, das Wort Gottes authentisch zu interpretieren. Das bedeutet nicht, dass die Kirche eine starre oder uniforme Lesart jedes biblischen Textes vorgibt, sondern sie stellt Grundsätze zur Verfügung, die eine treue Auslegung der offenbarten Botschaft ermöglichen.

Zu diesen Grundsätzen gehören:

  • Lesen in Gemeinschaft mit der ganzen Schrift: Kein biblischer Text darf isoliert interpretiert werden, sondern muss im Kontext der gesamten Bibel verstanden werden.
  • Die Analogie des Glaubens: Die Auslegung der Heiligen Schrift muss im Einklang mit den Lehren der Kirche stehen. Ein Text kann nicht so interpretiert werden, dass er einer bereits feststehenden Glaubenswahrheit widerspricht.
  • Achtung vor den literarischen Gattungen: Die Bibel enthält viele literarische Gattungen, wie Poesie, Prophezeiung, Geschichte und Briefe. Jede dieser Gattungen muss angemessen gelesen werden, wobei zu beachten ist, dass poetische Sprache nicht auf dieselbe Weise wie eine historische Erzählung verstanden werden darf.

5. Die Bedeutung des Gebets und des Heiligen Geistes

Über die technischen Grundsätze hinaus erfordert das geistliche Lesen der Bibel das Wirken des Heiligen Geistes. Die Heilige Schrift ist ein inspirierter Text, und um sie wirklich zu verstehen, müssen wir uns dem göttlichen Licht öffnen. Es ist hilfreich, vor dem Bibellesen ein einfaches Gebet zu sprechen und den Heiligen Geist um Erleuchtung zu bitten, damit wir verstehen, was Gott uns durch sein Wort sagen will.

Der heilige Hieronymus sagte: „Die Unkenntnis der Schrift ist die Unkenntnis Christi.“ Wenn wir uns also der Bibel nähern, sollten wir dies in Demut tun und wissen, dass es sich nicht nur um ein Buch handelt, das intellektuell studiert werden muss, sondern um ein lebendiges Wort, das heute zu uns spricht.

6. Lectio Divina: Eine Methode des betenden Lesens

Eine der reichhaltigsten und tiefgründigsten Methoden, die Bibel in der Tradition der Kirche zu lesen, ist die Lectio Divina. Diese alte Methode des betenden Lesens der Heiligen Schrift besteht aus vier Schritten:

  1. Lectio (Lesen): Lies den Text langsam und aufmerksam, um den wörtlichen Sinn zu verstehen.
  2. Meditatio (Meditation): Denke über den Text nach und lasse die Worte oder Sätze, die dich am meisten ansprechen, in deinem Herzen nachklingen.
  3. Oratio (Gebet): Antworte Gott im persönlichen Gebet, basierend auf dem, was du meditiert hast.
  4. Contemplatio (Kontemplation): Verweile in der Stille vor Gott und lasse sein Wort dein Herz verwandeln.

Schlussfolgerung: Ein lebendiges Wort für die Welt von heute

Die Auslegung der Heiligen Schrift erfordert heute eine Balance zwischen rigoroser Studie und geistlicher Offenheit. Die Bibel ist nicht nur ein antiker Text; sie ist das lebendige Wort Gottes, das zu uns in unserer gegenwärtigen Realität spricht. Wenn wir sie in Gemeinschaft mit der Kirche, geführt vom Heiligen Geist und verwurzelt in der Tradition lesen, können wir ihren unendlichen Reichtum entdecken und auf unser tägliches Leben anwenden.

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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