Von Junkfood zum zwanghaften „Clean Eating“: Die Völlerei im Zeitalter des gesunden Körperkults

Eine theologische und pastorale Reflexion über Ernährung, Körperobsession und die Tugend des Maßes


Einleitung: Von sichtbarem Übermaß zum versteckten Exzess

In unserer Zeit – geprägt von Hypervernetzung, Selbstdarstellung und ständiger Verfügbarkeit – ist Nahrung längst nicht mehr nur Mittel zum Überleben. Heute ist sie Identität, Ideologie, Mittel zur Kontrolle oder zur Rebellion. Über Jahrzehnte war das sogenannte Junkfood – kalorienreich, nährstoffarm – das Sinnbild der Völlerei: Übermaß, Nachlässigkeit, Trägheit. Doch heute stehen wir vor einem subtileren Phänomen: Clean Eating, Orthorexie, restriktive Diäten und ein Kult um den Körper im Namen der „Gesundheit“. Paradoxerweise kann auch diese extreme Selbstkontrolle geistlich gesehen eine andere Seite derselben Todsünde sein: der Völlerei.

Dieser Artikel möchte dieses Phänomen im Licht der kirchlichen Tradition, erhellt durch das Wort Gottes, die Wüstenväter und die jahrtausendealte Weisheit der katholischen Morallehre, beleuchten. Nicht, um zu verurteilen – sondern um zu begleiten. Nicht, um zu richten – sondern um einen Weg in die Freiheit aufzuzeigen.


I. Was ist Völlerei? Eine klassische Definition mit aktueller Relevanz

Völlerei bedeutet nicht einfach nur zu viel zu essen. Nach dem heiligen Thomas von Aquin ist sie ein „ungeordneter Wunsch nach Speise oder Trank“. Es geht also um eine ungeordnete Beziehung zum Essen – sei es durch Übermaß, durch Gier, durch Raffinesse – oder sogar (und hier wird es modern) durch einen übermäßigen Drang nach Reinheit und Kontrolle, der letztlich versklavt.

Die christliche Tradition – von den Wüstenvätern bis zur Morallehre – identifiziert fünf klassische Formen der Völlerei:

  1. Zu früh essen (praepropere)
  2. Zu hastig essen (laute)
  3. Nach zu ausgefallenen oder teuren Speisen verlangen (nimis exquisite)
  4. In zu großer Menge essen (nimis)
  5. Mit Gier essen (ardenter)

Heute könnten wir eine sechste Form hinzufügen: die Besessenheit von reiner Ernährung als neue Form der körperlichen Götzenverehrung. Wenn Nahrung nicht mehr einfach Nahrung ist, sondern ein Weg zur „Selbsterlösung“ – ohne Gott.


II. Ein kultureller Wandel: Vom Fast Food zur Fit-Food-Ideologie

In den letzten Jahrzehnten, besonders im Westen, konnten wir einen bemerkenswerten Wandel beobachten:

  • Früher: Die Sünde der Völlerei zeigte sich im sichtbaren Übermaß – Überkonsum, Nachlässigkeit, Trägheit.
  • Heute: Völlerei kann sich im extremen Kontrollzwang äußern – in restriktiver Ernährung, übertriebener Gesundheitsfixierung, Leistungsdenken und Körperästhetik.

Junkfood ist noch immer eine Versuchung. Doch heute hat die Kultur von „Fitness“, „Clean Eating“, extremen Diäten, Intervallfasten aus Eitelkeit und proteinreichen Ersatzprodukten eine neue Spiritualität ohne Seele hervorgebracht: der Körper als höchstes Gut.

Diese Obsession schadet nicht nur unserer physischen und psychischen Gesundheit – sie gefährdet auch das geistliche Leben: Sie wird zum Kult, zur Ersatzmoral, in der „gut“ gleichbedeutend ist mit „leicht“, „rein“, „ungesüßt“ und „fettfrei“.


III. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“: Nahrung und Seele

Jesus selbst antwortete dem Teufel bei der Versuchung in der Wüste:

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ (Mt 4,4)

Dieser Vers erinnert uns daran, dass der Mensch hungrig ist – aber nicht nur körperlich. Wir haben auch einen geistlichen Hunger. Wenn wir versuchen, diesen durch Essen (zu viel oder zu wenig), durch Diäten, Proteinshakes, Essenspläne oder Zahlen auf der Waage zu stillen, suchen wir letztlich, einen tieferen Mangel zu füllen. Einen Mangel, den nur Gott stillen kann.

Der heilige Augustinus formulierte es so treffend:

„Du hast uns auf Dich hin geschaffen, o Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir.“


IV. Der Körper als Tempel, nicht als Götze

Das Christentum verachtet den Körper nicht – im Gegenteil: Es erkennt ihn als Tempel des Heiligen Geistes (1 Kor 6,19). Für ihn zu sorgen, ist ein Akt der Dankbarkeit und Verantwortung. Doch Sorge ist nicht gleich Anbetung. Obsession ist kein Weg zum Heil.

Wenn der Körper zum absoluten Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit wird, wenn unser innerer Friede davon abhängt, was wir essen oder nicht essen, was wir zunehmen oder abnehmen, dann haben wir aufgehört, unseren Körper als Tempel zu sehen – und ihn zum Götzen gemacht.

Und Götzendienst ist letztlich eine Form geistlicher Völlerei: den Hunger der Seele mit etwas stillen zu wollen, das nicht Gott ist.


V. Verkleidete Völlerei: Wenn Gesundheit zur Sklaverei wird

Heute fällt man nicht mehr nur durch Übermaß in die Völlerei, sondern durch das Streben nach absoluter Kontrolle. Orthorexie – die krankhafte Fixierung auf „gesunde“ Ernährung – nimmt zu. In sozialen Medien wimmelt es von Influencern, die extreme Diäten, perfekte Körper, sündenfreie Nahrung (zuckerfrei, glutenfrei, fettfrei, geschmacklos…) propagieren.

Diese Besessenheit – gesellschaftlich oft bewundert – kann geistlich äußerst gefährlich sein:

  • Sie raubt uns die innere Freiheit.
  • Sie führt zu einem wertenden Blick auf andere.
  • Sie verursacht ständige Angst und Schuldgefühle.
  • Sie nimmt uns die Dankbarkeit und Freude am Einfachen.

Und vor allem stellt sie uns selbst – unseren Willen, unseren Körper, unseren Ernährungsplan – ins Zentrum. Anstatt Gott zu vertrauen, versuchen wir uns selbst durch Diätpläne zu erlösen.


VI. Ein theologischer und pastoraler Leitfaden zum Leben in der Tugend des Maßes

Die Tugend, die der Völlerei entgegengesetzt ist, heißt nicht „Diät“, sondern Mäßigung: die Fähigkeit, geschaffene Güter in rechter Weise zu gebrauchen. Essen in Ordnung, Dankbarkeit und Freiheit.

Hier ein praktischer Leitfaden für eine christliche, geordnete und spirituelle Beziehung zum Essen:

1. Nahrung als Geschenk neu entdecken

Jede Mahlzeit ist ein Geschenk Gottes. Essenssegen, gemeinsames Essen, langsames Genießen – all das heiligt das Essen.

„Ob ihr also esst oder trinkt oder sonst etwas tut: tut alles zur Ehre Gottes.“ (1 Kor 10,31)

2. Frieden nicht aus Nährwerttabellen ziehen

Innerer Frieden kommt nicht von Kalorien, Makronährstoffen oder dem glykämischen Index. Er kommt aus der Gewissheit, dass Gott uns liebt – mit all unseren Unvollkommenheiten, unseren Kilos zu viel oder zu wenig, unseren Rückfällen.

3. Die Tugend der Mäßigung leben

Es geht nicht darum, sich alle Freude zu nehmen – sondern darum, kein Sklave zu sein. Ein Dessert ohne Schuldgefühle genießen oder eine Versuchung frei ablehnen – das sind Zeichen geistlicher Reife.

4. Für den Körper sorgen – aber noch mehr für die Seele

Sport machen, gesund essen – ja. Aber vergesst nicht das Gebet, das Wort Gottes, das Sakrament der Versöhnung, die Nächstenliebe. Geistliche Gesundheit bleibt – körperliche vergeht.

5. Andere nicht nach Körper oder Essverhalten beurteilen

Der christliche Blick ist wohlwollend. Man weiß nie, was sich hinter einer Figur verbirgt – Übergewicht oder extreme Schlankheit. Barmherzigkeit beginnt am Tisch.

6. Das Fasten wiederentdecken – als Weg der Freiheit, nicht der Strafe

Das christliche Fasten ist keine Diät – es ist Vereinigung mit Christus, geordnete Ausrichtung unserer Wünsche, Öffnung für andere. Es ist keine Strafe: Es ist ein Gebet mit dem Leib.


Schlussfolgerung: Ein neuer Weg zur inneren Freiheit

Die Völlerei ist nicht verschwunden. Sie hat nur ihre Form geändert. Sie besteht nicht mehr nur darin, zu viel zu essen – sondern darin, zu sehr zu kontrollieren, zu fürchten, zu vergötzen. Doch das Evangelium zeigt weiterhin einen Weg der Freiheit.

Christus lädt uns ein, mit Dankbarkeit zu essen, mit Freude zu fasten, mit Maß zu leben. Unseren Körper als Tempel zu sehen – nicht als Skulptur aus dem Fitnessstudio. Jede Mahlzeit kann eine tägliche Eucharistie werden: ein Akt der Danksagung, nicht der Götzenverehrung.

Denn wahre Gesundheit – die Frieden, Freude und Sinn schenkt – kommt nicht vom Clean Eating, sondern von einem reinen Herzen.


📌 Ein abschließendes Gebet für diesen geistlichen Weg durch die Ernährung:

Herr, gib mir die Gnade, mit Dankbarkeit zu essen, mit Freude zu fasten und in Freiheit zu leben.
Möge mein Körper ein Tempel sein, kein Götze.
Möge ich mein Heil nicht in meinen Leistungen suchen, sondern Deine Liebe als tägliche Nahrung empfangen.
Amen.

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Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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