Vergessenes Ritual: Die Bedeutung des „Tau-Buchstabens“ (τ), den der Priester mit Weihwasser zeichnet

Ein eschatologisches Symbol des Schutzes und der Zugehörigkeit zu den Erlösten


Einleitung: Die Kraft der Zeichen im christlichen Leben

In der katholischen Tradition sind Zeichen und Symbole keine bloßen rituellen Verzierungen oder leere Formeln. Sie sind lebendige Ausdrücke des göttlichen Geheimnisses — sichtbare Realitäten, die uns das Unsichtbare mitteilen. Unter diesen Zeichen gibt es eines, das für viele Gläubige in Vergessenheit geraten ist, obwohl es in seiner Zurückhaltung eine tiefe geistliche Kraft enthält: der Tau-Buchstabe (τ), den der Priester oft fast unmerklich mit Weihwasser über Türen, Gläubige oder geweihte Gegenstände zeichnet.

Was bedeutet diese Geste? Woher stammt sie? Warum ist es wichtig, sie heute wiederzuentdecken — in einer Welt, die vom Relativismus und geistlicher Verwirrung geprägt ist? Dieser Artikel möchte dich zum Herzen dieses alten Zeichens führen, dessen Theologie in der Heiligen Schrift, in der Geschichte der Kirche und in der eschatologischen Hoffnung des erlösten Volkes verwurzelt ist.


1. Biblischer Ursprung des Tau-Zeichens: Das Siegel der Auserwählten

Die erste und kraftvollste Erwähnung des Tau-Zeichens (Τ) findet sich im Alten Testament, im Buch des Propheten Ezechiel:

„Und der Herr sprach zu ihm: Geh durch die Stadt, durch das Innere Jerusalems, und zeichne ein Zeichen auf die Stirn der Männer, die seufzen und jammern über all die Gräuel, die in ihr verübt werden.“ (Ez 9,4)

Im hebräischen Urtext ist das erwähnte „Zeichen“ genau der Buchstabe „Taw“ (ת), der in der alt-hebräischen Schrift die Form eines Kreuzes oder eines „X“ hatte. Dieser Buchstabe entspricht im Griechischen dem Tau (Τ) und wurde als Zeichen des göttlichen Schutzes verwendet: Wer dieses Zeichen trug, wurde vor dem drohenden Strafgericht verschont, das wegen der Sünden über die Stadt kommen sollte.

Diese Stelle wurde von den Kirchenvätern sehr früh als prophetischer Hinweis auf das Kreuzzeichen gedeutet, das später zum zentralen Symbol der christlichen Erlösung werden sollte.


2. Das Tau als frühes christliches Symbol

In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurde der Tau-Buchstabe zu einem Zeichen christlicher Identität. Es war eine kurze, aber tiefgründige Weise, den Glauben an den Gekreuzigten ohne Worte zu bekennen. Christen zeichneten ihn in den Katakomben, auf ihren Besitztümern, an Wände und sogar auf sich selbst.

Der heilige Hieronymus schrieb:

„Der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets ist das Tau, das die Form eines Kreuzes hat, und das auf die Stirn der Männer gezeichnet wurde, die seufzten und weinten.“
(Kommentar zu Ezechiel, 9,4)

Und Tertullian schrieb am Ende des 2. Jahrhunderts, dass Christen „unsere Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes zeichnen“ (De Corona, 3). Obwohl er das Tau nicht ausdrücklich erwähnt, ist die Geste eng verwandt: Das Tau wurde bereits als Urbild des Kreuzes verstanden.

So wurde das Tau in seiner ältesten Form zum Zeichen der Erlösten, jener, die durch das Blut des Lammes gerettet sind und hoffnungsvoll dem ewigen Leben entgegenschreiten.


3. Der heilige Franz von Assisi und die Spiritualität des Tau

Einer der großen Förderer des Tau-Symbols war der heilige Franz von Assisi, der es als persönliches geistliches Siegel annahm. Er schrieb es in seine Briefe, malte es an die Wände seiner Zellen und unterzeichnete sogar offizielle Dokumente damit.

Für Franziskus war das Tau nicht nur ein Buchstabe oder ein Schmuckelement: Es war ein Zeichen der Umkehr, der Armut, der Demut und des Gehorsams gegenüber dem Evangelium. Es stellte das Kreuz dar, das jeder Christ tragen muss, und zugleich den göttlichen Schutz, der jene begleitet, die im Geist leben.

Papst Innozenz III., ein Zeitgenosse von Franziskus, gebrauchte das Tau in einer Ansprache während des Vierten Laterankonzils (1215) und rief die Christen dazu auf, sich „mit dem Tau zu kennzeichnen“ durch ein Leben in Heiligkeit. Dies beeindruckte den Poverello zutiefst, und von da an nahm er es als Siegel seiner Zugehörigkeit zum gekreuzigten Christus an.


4. Die Geste des Priesters: Das Tau mit Weihwasser zeichnen

Wenn ein Priester mit Weihwasser segnet — sei es die Gläubigen, ein Haus oder einen liturgischen Gegenstand — zeichnet er oft ein Kreuz in die Luft, aber in bestimmten Riten (etwa bei alten Weihen von Altären oder Kirchentüren) verwendet er ein Tau, ein Kreuz ohne oberen Querbalken, schlicht und still, aber von tiefer Symbolkraft.

Diese Geste erinnert uns daran, dass wir durch Gottes Segen gezeichnet sind, dass wir mit dem Heiligen Geist versiegelt wurden und dass Gott, wie im Ezechiel-Text, jene unterscheidet und schützt, die nach Gerechtigkeit rufen und treu leben.

Dieses unsichtbare Zeichen mit Weihwasser ist ein Ritus der Zugehörigkeit, eine Erneuerung der Taufe, eine Aktualisierung des eschatologischen Siegels, das uns daran erinnert, dass wir Christus gehören.


5. Theologische und eschatologische Bedeutung des Tau

a) Siegel der Erlösten

Die Offenbarung greift das Thema des „Siegels auf der Stirn“ auf:

„Fügt weder der Erde noch dem Meer noch den Bäumen Schaden zu, bis wir die Knechte unseres Gottes an ihren Stirnen versiegelt haben.“ (Offb 7,3)

Das Tau, als Kreuz und Zeichen der Weihe, ist ein Vorausbild jenes unsichtbaren Siegels, das die Heiligen tragen. In der christlichen Eschatologie kennzeichnet das Siegel das Volk Gottes inmitten des Chaos der Welt und schützt es in der großen Drangsal.

b) Geistlicher Schutz

In einer Zeit voller doktrinärer Verwirrung, geistlicher Kämpfe und einer säkularisierten Welt erscheint das Tau-Zeichen erneut als Schild. Kein magischer oder abergläubischer Schild, sondern ein Ruf, im Glauben gezeichnet zu leben, im Bewusstsein, dass Gott die Seinen erkennt — jene, die das Kreuz nicht nur auf der Stirn, sondern auch in ihrer Seele und in ihren Taten tragen.

c) Ruf zur Umkehr

Das Zeichnen des Tau mit Weihwasser ist nicht nur eine Schutzgeste, sondern eine Einladung zur täglichen Umkehr. Es erinnert daran, dass jeder Christ „versiegelt“ leben soll — in Demut, geistlicher Armut, Liebe zur Wahrheit und Treue zum Kreuz.


6. Praktische Anwendungen für das Leben der Gläubigen

Was kann ein Christ heute mit diesem Wissen tun?

  1. Die sakramentalen Zeichen neu entdecken. Weihwasser mit Glauben verwenden — beim Betreten des Hauses, beim Tagesbeginn, zum Schutz der Kinder. Nicht als Aberglaube, sondern als Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus.
  2. Das Tau auf sich selbst zeichnen. Beim Gebet das Kreuzzeichen in Form eines Taus auf die Stirn zeichnen — bewusst und mit der Absicht, seine Identität als Erlöster zu bekräftigen.
  3. Als Versiegelter leben. Dein Leben soll dieses Siegel widerspiegeln: Sei glaubwürdig im Glauben, meide die Sünde, kämpfe für die Wahrheit, sei Licht in der Dunkelheit.
  4. Christliche Symbole weitergeben. Deinen Kindern, Enkeln oder Katechumenen die Bedeutung liturgischer Gesten erklären — zeigen, wie das Christentum nicht nur Idee, sondern Verkörperung des Geheimnisses im Alltag ist.
  5. Den Priester um diese Segnung bitten. Zu besonderen Anlässen (Schulbeginn, Haussegnung, Exerzitien) den Pfarrer bitten, über dir oder deiner Familie das Tau-Zeichen mit Weihwasser zu zeichnen — als Geste der Weihe.

Schlussfolgerung: Die Rückkehr eines kraftvollen Zeichens

Wir leben in einer Zeit, die uns dazu drängt, unsere Wurzeln zu vergessen, heilige Zeichen aufzugeben und das Heilige zu banalisieren. Aber Gott vergisst die Seinen nicht, und sein Siegel bleibt auf denen, die — wie zu Zeiten Ezechiels — über die Sünde der Welt trauern und sich am Evangelium festhalten.

Das Tau ist mehr als ein Buchstabe: Es ist das Zeichen der Erlösten, der Schild der Gläubigen, das Kennzeichen derer, die zur himmlischen Jerusalem pilgern. Es in unser geistliches Leben zurückzuholen, ist keine Nostalgie, sondern aktive Hoffnung — das Leben als Gezeichnete, als Versiegelte in der Liebe und Geweihte des Lammes.

„Niemand soll mir weiter Schwierigkeiten machen; denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leib.“ (Gal 6,17)

Wenn du dieses kleine Kreuz, dieses alte und kraftvolle Zeichen siehst, erinnere dich daran, wer du bist und wem du gehörst.

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Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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