Einleitung: Ein Ruf, der durch die Zeit hallt
Stellen Sie sich die Szene vor: Ein verschlossener Raum, eine Atmosphäre geprägt von Angst und Verwirrung. Zehn Jünger versteckt, ihre Herzen noch immer erfüllt von der Grausamkeit des Kreuzes und dem Staunen über das leere Grab. Plötzlich steht der auferstandene Jesus mitten unter ihnen. Friede. Unbeschreibliche Freude. Doch einer fehlt: Thomas, der Zwilling, der Pragmatiker, derjenige, der sehen muss, um zu glauben. Eine Woche später wiederholt sich die Geschichte. Jesus erscheint erneut, und diesmal richtet er seinen Blick direkt auf Thomas. Er tadelt ihn nicht – er bietet ihm seine Wunden an: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Johannes 20,27). Und dann bricht die tiefste Wahrheit hervor, das reinste Bekenntnis, der Kern des christlichen Glaubens, aus dem Herzen eines einst ungläubigen Mannes:
„Mein Herr und mein Gott!“ (Johannes 20,28).
Dieser Ruf ist nicht nur der des Thomas – er ist das Echo jedes Gläubigen, der in Ehrfurcht und Anbetung die wahre Identität Jesu von Nazareth erkannt hat.
I. Die Szene: Zweifel, Begegnung und Offenbarung
Um das Gewicht dieser Worte zu verstehen, müssen wir den Kontext betrachten. Thomas war bei der ersten Erscheinung vor den zehn Jüngern nicht anwesend. Sein Skeptizismus – „Wenn ich nicht in seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel lege und meine Hand in seine Seite lege, werde ich nicht glauben.“ (Johannes 20,25) – war nicht bloßer Starrsinn. Es war der Ausdruck eines von Verlustschmerz gezeichneten Herzens und der menschlichen Unfähigkeit, die Auferstehung zu begreifen. Jesus, in seiner unendlichen Barmherzigkeit und göttlichen Pädagogik, weist ihn nicht wegen seines Zweifels zurück, sondern begegnet ihm in seiner Not. Er macht sich greifbar, indem er die physischen Beweise seines verherrlichten Leidens anbietet. Er ist kein Geist – er ist derselbe, der ans Kreuz geschlagen wurde, nun lebendig und verwandelt.
II. „Mein Herr und mein Gott“: Eine theologische Erschütterung
Das Bekenntnis des Thomas ist kurz, aber theologisch von ungeheurer Dichte – ein Juwel der Offenbarung:
- „Kyrios“ (Mein Herr): Im jüdisch-griechischen Kontext war „Kyrios“ ein Titel absoluter Souveränität. Er bezeichnete Gott selbst (als Übersetzung des hebräischen „Adonai“, der ehrfürchtigen Ersetzung für Jahwe). Diesen Titel auf Jesus anzuwenden bedeutet, ihn als Herrn, Besitzer und Souverän des eigenen Lebens anzuerkennen. Es ist das Glaubensbekenntnis an seine auferstandene Herrschaft, das die Prophezeiung erfüllt: „Darum wird ihn auch Gott erhöhen und ihm den Namen geben, der über alle Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich alle Knie derer beugen, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist“ (Philipper 2,9-11).
- „Theos“ (Mein Gott): Hier liegt die theologische Sprengkraft. Thomas sagt nicht „ein Gott“ oder „göttlich“. Er verwendet den eindeutigen Begriff „Theos“ (Θεός), denselben, der im Alten Testament (Septuaginta) und im Prolog des Johannesevangeliums für den einen Gott Israels steht: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Johannes 1,1). Indem er Jesus „Theos“ nennt, bekennt Thomas unter der Eingebung des Heiligen Geistes die volle Göttlichkeit Jesu Christi. Er ist kein erhöhter Prophet oder mächtiger Engel – er ist Gott selbst, Mensch geworden, nun auferstanden und gegenwärtig.
- Das besitzergreifende „Mein“: Dies ist kein abstraktes Statement. Es ist persönlich, intim, eine völlige Hingabe: „Mein Herr und mein Gott!“ Es ist die Antwort eines Herzens, das sich vor der greifbaren Wirklichkeit der fleischgewordenen Liebe, die den Tod besiegt hat, in Anbetung niederwirft. Es ist gegenseitiger Besitz – ganz ihm gehörend.
III. Jesus ist Gott: Der Eckstein des Glaubens
- Gegen Arianismus und spätere Häresien: Dieser Vers war eine entscheidende Waffe gegen Irrlehren wie den Arianismus (der die volle Göttlichkeit Christi leugnete). Die Kirchenväter (Athanasius, Gregor von Nazianz, Augustinus) beriefen sich ständig darauf: Wie hätte Thomas, ein monotheistischer Jude, einen bloßen Menschen „Gott“ nennen können, ohne zu lästern? Nur die Wirklichkeit der Menschwerdung erklärt es.
- Erfüllung der Offenbarung: Johannes strukturiert sein Evangelium so, dass die Identität Jesu fortschreitend enthüllt wird – vom „Lamm Gottes“ (Johannes 1,29) zum „Ich bin“ (Anspielung auf den Gottesnamen aus Exodus 3,14) – und gipfelt in diesem expliziten Bekenntnis des Thomas. Es ist der Höhepunkt der Selbstoffenbarung Jesu.
- Die Dreifaltigkeit in Aktion: Indem Thomas Jesus „Gott“ nennt, bekennt er die zweite Person der Heiligen Dreifaltigkeit. Der Vater erweckt den Sohn durch die Kraft des Geistes (Römer 8,11), und der auferstandene Sohn offenbart sich als Gott. Es ist ein zutiefst trinitarischer Moment.
- Der Katechismus bestätigt es: „Die Kirche nennt das Glaubensbekenntnis des Thomas ‚Mein Herr und mein Gott!‘ die österliche Glaubensverkündigung. Es ist das erste ausdrückliche Bekenntnis der Gottheit Christi nach der Auferstehung“ (Kompendium des Katechismus, Nr. 129).
IV. Warum ist das HEUTE relevant? Überwindung des „Maßgeschneiderten Gottes“
In einer Kultur, die vom Relativismus, subjektiver Spiritualität („Ich glaube an irgendetwas, aber auf meine Weise“) und der Versuchung geprägt ist, Jesus auf einen „ethischen Lehrer“ oder „inspirierenden Führer“ zu reduzieren, ist Johannes 20,28 eine mächtige und notwendige Erinnerung:
- Gegen Reduktionismus: Wir dürfen Jesus nicht verwässern. Er ist nicht nur ein guter Mensch – er ist Gott-mit-uns (Emmanuel). Seine Lehre hat absolutes Gewicht, weil sie Gottes Wort ist. Sein Opfer hat unendlichen Wert, weil Gott selbst sich hingibt.
- Grundlage der Anbetung: Nur Gott darf angebetet werden. Wenn Jesus nicht Gott wäre, wären Eucharistische Anbetung, Rosenkranz und Prozessionen Götzendienst. Das Bekenntnis des Thomas rechtfertigt und verlangt unsere Anbetung Christi.
- Hoffnung angesichts von Übel und Tod: Wenn Jesus nur ein Mensch wäre, wäre sein Sieg über den Tod begrenzt. Wenn er Gott ist, ist seine Auferstehung die absolute Garantie für die unsere und die endgültige Niederlage von Sünde und Tod. Unsere Hoffnung hat göttliche Fundamente!
- Antwort auf modernen Skeptizismus: Wie Thomas fordern viele heute „Beweise“. Jesus weist ehrliche Suche nicht zurück. Aber echter Glaube, der auf ausreichende Evidenz trifft (Schrift, Tradition, Kirche, Eucharistie), muss im selben Bekenntnis münden: „Mein Herr und mein Gott!“
V. Praktische Anleitung: „Mein Herr und mein Gott!“ im 21. Jahrhundert leben
Wie lässt sich diese tiefe theologische Wahrheit im Alltag umsetzen? Hier ein theologisch-pastorales Rüstzeug:
1. Staunen vertiefen (Meditation)
- Johannes 20 lesen und wiederlesen: Meditieren Sie langsam über die Szene. Stellen Sie sich vor, Sie wären dabei. Spüren Sie Thomas‘ Zweifel, den Schock, Jesus zu sehen, die Emotion seines Bekenntnisses.
- Die Wunden betrachten: Christi Wunden sind Zeichen seiner bis zum Äußersten gehenden Liebe und seines Sieges. Berühren Sie sie in der geistlichen Betrachtung – besonders in der Eucharistie (sein hingegebener Leib) und der Beichte (sein heilendes Erbarmen).
- Das Bekenntnis wiederholen: Machen Sie Thomas‘ Worte zu Ihren eigenen. Verwenden Sie sie als Stoßgebet: „Mein Herr und mein Gott! Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“
2. Den Glauben stärken (Bildung)
- Grundlagen studieren: Lernen Sie, warum die Kirche an Christi Gottheit glaubt (Katechismus, Konzilien wie Nicäa und Chalzedon). Bücher wie Benedikts XVI. „Jesus von Nazareth“ sind hervorragend.
- Zweifel angehen: Scheuen Sie Fragen nicht. Suchen Sie Antworten in soliden katholischen Quellen (Priester, vertrauenswürdige Theologen, gute Bücher, geprüfte Websites). Vernunftgemäßer Glaube ist stärker.
- Liturgie leben: Nehmen Sie bewusst an der Messe teil. Jede Eucharistie ist ein neuer Abendmahlssaal, wo Christus gegenwärtig wird. Bei der Kommunion sprechen Sie im Herzen: „Mein Herr und mein Gott!“
3. Glauben handeln (Zeugnis)
- Ihn als „Herrn“ (Kyrios) anerkennen: Prüfen Sie Ihr Leben: Welche Bereiche haben Sie noch nicht seiner Herrschaft unterstellt? (Arbeit, Beziehungen, Geld, Vergnügen, Zeit.) Treffen Sie täglich eine konkrete Hingabeentscheidung: „Jesus, sei heute der Herr über [Nennen Sie einen Bereich].“
- Ihn als „Gott“ (Theos) anbeten: Verbringen Sie Zeit in der Eucharistischen Anbetung. Vereinfachen Sie Ihr Gebet: Stillschweigend vor seiner realen Gegenwart zu verharren ist Anbetung. Lassen Sie Ihr ganzes Leben ein Gottesdienst sein (Römer 12,1).
- Mutig bekennen: Verstecken Sie Ihren Glauben nicht. In einer Welt, die Christus relativiert, seien Sie durch Ihr Leben (Nächstenliebe, Integrität, Hoffnung) und, wenn möglich, durch Worte Zeuge seiner Gottheit. Teilen Sie, wie der Glaube an Jesus als Gott Ihr Leben prägt.
- Kindlich vertrauen: Wenn er Gott ist, sind seine Verheißungen gewiss, seine Macht unendlich, sein Erbarmen grenzenlos. Bringen Sie Ihre Lasten, Ängste und Träume in kindlichem Vertrauen zu ihm. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lukas 23,46) war das vollkommene Vertuen des Sohnes-Gottes – lassen Sie es Ihres formen.
Schluss: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“
Jesus antwortet Thomas – und uns: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Johannes 20,29). Wir sind diese Seligen. Wir haben seine physischen Wunden nicht berührt, aber wir haben das Zeugnis der Apostel, seine reale Gegenwart in der Eucharistie, das Wirken des Heiligen Geistes und die Erfahrung seiner Gnade in unserem Leben.
Johannes 20,28 ist kein Vers der Vergangenheit – es ist ein ewiger Ruf in die Gegenwart. Ein Ruf, aus unserem „Abendmahlssaal“ der Zweifel, Bequemlichkeit oder Ängste herauszutreten. Ein Ruf, unseren Blick auf den auferstandenen Christus zu richten und mit derselben Klarheit und Inbrunst wie Thomas seine wahre Identität zu bekennen. Ein Ruf, uns nicht nur physisch, sondern mit unserem ganzen Sein niederzuwerfen und mit erneuertem, lebendigem, lebensveränderndem Glauben zu bekennen:
„MEIN HERR UND MEIN GOTT!“
Möge dieses Bekenntnis das Fundament unseres Lebens sein, das Licht in unserer Dunkelheit, die Kraft in unserer Schwäche und die unerschütterliche Hoffnung auf unserem Weg zur himmlischen Heimat. Amen.