Eine theologische und pastorale Reise ins Herz der göttlichen Selbstgenügsamkeit und unserer radikalen Abhängigkeit von Ihm
Einleitung: Ein Gott, der nichts braucht… aber liebt
In einer Welt, die von Bedürftigkeit geprägt ist – nach Zuneigung, Sicherheit, Geld, Anerkennung – wirkt es provokant, ja geradezu befremdlich, von einem Wesen zu sprechen, das absolut nichts braucht. Und doch ist dies eine der tiefsten, befreiendsten und zugleich herausforderndsten Wahrheiten des christlichen Glaubens: Gott ist reine Aseität. Das heißt: Er ist aus sich selbst, existiert durch sich selbst und braucht weder etwas noch jemanden, um zu sein.
Du und ich, endliche und zerbrechliche Geschöpfe, sind jeden Tag auf tausend Dinge angewiesen: auf den Sauerstoff, den wir atmen, auf die Liebe, die wir empfangen, auf das Brot, das wir essen. Was bedeutet es also, dass Gott reine Aseität ist, und was hat das mit unserem Leben hier und heute zu tun? Wie kann uns diese uralte Lehre inmitten von Lärm, Angst und innerer Leere helfen?
Dieser Artikel möchte eine Brücke schlagen zwischen der Höhe der traditionellen Theologie und der Tiefe unserer alltäglichen Suche. Denn Gott so zu erkennen, wie Er wirklich ist – selbstgenügsam, ewig, vollkommen – lehrt uns auch, wer wir sind: bedürftige Geschöpfe, berufen zur Demut, zum Vertrauen und zur Anbetung.
I. Was ist göttliche Aseität?
Etymologie und Definition
Das Wort „Aseität“ stammt vom lateinischen a se, was „aus sich selbst“ bedeutet. In der Theologie bezeichnet es die ontologische Selbstgenügsamkeit Gottes: Gott empfängt Sein Sein nicht von einem anderen, Er ist von nichts abhängig, und Er existiert aus sich selbst heraus. Er ist das einzige Wesen, dessen Sein Sein selbst ist – wie es in dem Namen deutlich wird, den Er Mose offenbarte:
„ICH BIN, DER ICH BIN“ (Ehyeh Asher Ehyeh) — Exodus 3,14.
Gott existiert notwendig, nicht zufällig. Alles Geschaffene existiert, weil es von einem Anderen ins Dasein gerufen wurde, aber Gott wurde nicht erschaffen, begann nicht zu sein, wurde nicht verursacht. Wie Thomas von Aquin sagt:
„Gott ist Sein selbst“ (ipsum esse subsistens) — Summa Theologiae, I, q.3, a.4.
Das bedeutet, dass in Gott keine Unterscheidung zwischen Wesen und Existenz besteht, was Ihn radikal von allen Geschöpfen unterscheidet. Du hast Leben. Gott ist das Leben. Du hast Liebe. Gott ist die Liebe (1 Joh 4,8). Er besitzt nichts – Er ist.
II. Geschichte des Begriffs: Von der Philosophie zum Dogma
Obwohl der Begriff der Aseität klar in der Offenbarung verankert ist, erhielt er durch die Begegnung mit der klassischen Philosophie – insbesondere mit der griechischen Metaphysik – eine präzise, technische Ausformung. Die Kirchenväter, die mittelalterlichen Scholastiker und die großen Kirchenlehrer haben ihn als eines der Fundamente des christlichen Denkens übernommen.
Bei den Kirchenvätern
Augustinus, auf seiner Suche nach Wahrheit und Sein, erkannte, dass nur in Gott jene Beständigkeit und Fülle existiert, die die Welt nicht bieten kann:
„Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“ — Confessiones, I,1.
In der Scholastik
Thomas von Aquin erhob die Aseität zum Grundpfeiler jeder natürlichen Theologie. Er zeigte, dass Gott der reine Akt (actus purus) ist, ohne Möglichkeit, ohne Mangel – und damit:
- Gott ist seine eigene Ursache, ohne verursacht zu sein.
- Gott braucht die Welt nicht, um vollkommen oder glücklich zu sein.
- Jede Abhängigkeit ist eine Unvollkommenheit, und Gott ist absolut vollkommen.
In der Reformation und der katholischen Theologie nach Trient
Sowohl die Reformatoren als auch die katholischen Theologen der nachtridentinischen Zeit hielten an dieser Lehre als wesentlich fest. Sie zu leugnen, hieße, Gott zu einem weiteren Wesen im Universum zu machen – einem „großen Geist“, aber nicht dem wahren Gott, der alles übersteigt und alles trägt (vgl. Hebr 1,3).
III. Warum ist göttliche Aseität heute wichtig?
Wir leben in einer Zeit, die von der Illusion der Selbstgenügsamkeit geprägt ist. Man lehrt uns, „niemanden zu brauchen“, „uns selbst zu genügen“, „unser eigener Gott zu sein“. Aber diese Selbstgenügsamkeit ist eine existenzielle Lüge, die früher oder später zusammenbricht. Die menschliche Seele ist nicht für absolute Unabhängigkeit gemacht, sondern für Gemeinschaft, Offenheit, Anbetung.
Gerade deshalb ist es eine Befreiung, sich daran zu erinnern, dass nur Gott Aseität ist, und dass wir auf Ihn angewiesen sind. Du musst nicht dein eigener Erlöser sein. Du musst nicht alles im Griff haben. Du bist nicht Gott – und das ist eine gute Nachricht.
IV. Praktische Anwendungen: Was die Aseität über dich aussagt
1. Gott braucht dich nicht – aber Er liebt dich
Das ist ein entscheidender Punkt. Wenn Gott nichts braucht, dann braucht Er auch dich nicht. Aber warum hat Er dich dann erschaffen? Warum hat Er dich erlöst? Aus reiner Liebe. Aus reiner Güte.
„Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, kannte ich dich“ — Jeremia 1,5.
Du existierst nicht, weil Gott dich braucht, sondern weil Er frei wollte, dass du bist. Das bedeutet: Du kannst Seine Liebe nicht „erkaufen“ und brauchst nichts zu leisten, um Seine Aufmerksamkeit zu verdienen. Er liebt dich weil Er es will. Punkt.
2. Deine Abhängigkeit ist keine Schwäche, sondern ein Weg
Die Welt sieht Bedürftigkeit als Schwäche. Doch im christlichen Leben ist die Anerkennung des eigenen Bedürfnisses wahre Weisheit. Wenn du sagst: „Herr, ich kann das nicht ohne Dich“, öffnest du das Tor zur Gnade.
„Ohne mich könnt ihr nichts tun“ — Johannes 15,5.
Das geistliche Leben blüht dort auf, wo wir aufhören, uns wie Götter zu benehmen, und anfangen, als das zu leben, was wir sind: Geschöpfe, die in allem auf Gott angewiesen sind.
3. Das Gebet entsteht aus Abhängigkeit
Wenn du niemanden brauchst – warum dann beten? Aber wenn du erkennst, dass du von Gott abhängst, dann wird das Gebet kein lästiges Pflichtprogramm, sondern lebensnotwendig – wie die Luft zum Atmen. Die Aseität Gottes macht das Gebet nicht überflüssig – sie macht es echter, denn du sprichst nicht zu einem bedürftigen Wesen, sondern zu einem Vater, der zuhört weil Er liebt.
4. Die Anbetung bekommt ihren Sinn
Wenn Gott dein Lob nicht braucht… warum Ihn anbeten? Weil die Anbetung nicht für Gott, sondern für dich ist. In ihr erkennst du die Wahrheit: dass du nicht das Zentrum des Universums bist. Dass es Einen gibt, der alles trägt und aller Ehre würdig ist.
„Ihm sei die Ehre in Ewigkeit. Amen“ — Römer 11,36.
V. Die Aseität und das verwundete Herz des modernen Menschen
Wir leben im Zeitalter des Burnouts, der chronischen Angst, des ständigen Vergleichs. Wir versuchen, perfekt, stark, produktiv, selbstgenügsam zu sein… und enden innerlich zerbrochen. Die Lehre von der Aseität ist ein tiefes geistliches Heilmittel: Du bist nicht Gott – und du musst es auch nicht sein.
In einem Gott ruhen zu dürfen, der sich nicht ändert, der nicht abhängig ist, der nichts braucht – das ist der größte Trost. Es heißt: Es gibt einen Ort – besser gesagt: ein Sein –, auf den du dich ohne Furcht stützen kannst.
VI. Schlussfolgerung: Ein vollkommener Gott, der dich erfüllen will
Die göttliche Aseität ist kein abstraktes Konzept für Philosophen. Sie ist eine lebendige Wahrheit, die die Seele berührt: Gott braucht nichts… aber du brauchst alles von Ihm. Und das ist gut so. Das ist Demut, geistliche Armut – der Anfang des wahren christlichen Lebens.
Auf dem Weg des Glaubens geht es nicht darum, unabhängiger zu werden, sondern abhängiger von Gott. Es geht nicht darum, „es selbst zu schaffen“, sondern darum, dich ganz auf Ihn zu stützen, wie ein Kind, das sich in den Armen seiner Mutter ausruht.
„Ich ließ meine Seele ruhig werden und still; wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter ist meine Seele still in mir“ — Psalm 131,2.
Gott, in Seiner Aseität, braucht uns nicht. Doch Er wollte uns brauchen – aus Liebe. Er machte uns zu Teilhabern an Seinem Leben. Und genau darin liegt das größte Geheimnis: Der selbstgenügsame Gott wurde in Christus schwach für uns, damit wir, in unserem Mangel, durch Ihn und mit Ihm für immer leben können.
Abschlussgebet
Herr, ewiger Gott,
Du, der Du das Sein selbst bist und nichts brauchst,
lehre mich, Dich als mein Alles zu erkennen.
Hilf mir, in Demut zu leben,
in völliger Abhängigkeit von Dir, ohne Angst,
und in Deiner Fülle zu ruhen.
Du brauchst nichts,
doch aus Liebe wolltest Du mich brauchen.
Lass mich nie vergessen,
dass ich ein Geschöpf bin,
und Du, mein Schöpfer,
bist Alles.
Amen.