Das siebte Gebot, „Du sollst nicht stehlen“, ist nicht nur ein wörtliches Verbot, sich etwas anzueignen, was uns nicht gehört, sondern ein tiefgreifender Aufruf zu Gerechtigkeit, Solidarität und Loslösung in unserem Leben. In einer Welt, die von Gier, Ungleichheit und Ausbeutung geprägt ist, lädt uns dieses Gebot ein, über unsere Beziehung zu materiellen Gütern, zu anderen und vor allem zu Gott nachzudenken.
Die heutige Realität stellt unsere Fähigkeit, nach diesem Gebot zu leben, ständig auf die Probe. In einer globalisierten Umwelt, in der Konsum als Grundlage für Glück angesehen wird und Erfolg anhand von materiellem Wohlstand gemessen wird, erinnert uns „Du sollst nicht stehlen“ daran, dass wir aufgerufen sind, gerecht, großzügig und verantwortungsbewusst zu leben. Dieses Gebot hat weitreichendere Implikationen als nur das einfache Verbot, etwas zu nehmen, was uns nicht gehört: Es ist eine Einladung, mit Integrität zu leben, die Rechte anderer zu respektieren und eine gerechtere Gesellschaft zu fördern.
Das siebte Gebot verstehen
Das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ erscheint im Buch Exodus (20, 15) und Deuteronomium (5, 19) als Teil der Zehn Gebote, die Gott Mose auf dem Berg Sinai gegeben hat. Dieses Gebot, wie die anderen, bezieht sich nicht nur auf eine äußere Handlung (etwas Materielles zu stehlen), sondern fordert uns auf, ein gerechtes und großzügiges Herz zu kultivieren.
Stehlen im weitesten Sinne ist jede Handlung, die eine Person ihres rechtmäßigen Besitzes beraubt. Dazu gehören nicht nur direkter Diebstahl, sondern auch subtilere Ungerechtigkeiten wie Betrug, Ausbeutung von Arbeitskräften, Steuerhinterziehung und Korruption. Durch dieses Gebot ruft uns Gott auf, das Eigentum anderer zu respektieren, ehrlich in unseren Geschäften zu sein und in unseren wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen gerecht zu handeln.
Das siebte Gebot lädt uns jedoch auch ein, weiter zu gehen: die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen zu hinterfragen, die Ungleichheit und Armut aufrechterhalten. Wie der Katechismus der katholischen Kirche erklärt: „Das siebte Gebot verbietet, das Gut eines anderen unrechtmäßig an sich zu nehmen oder ihm auf irgendeine Weise Schaden zuzufügen im Hinblick auf sein Gut“ (KKK 2408).
Gerechtigkeit und Solidarität: Säulen einer christlichen Gesellschaft
Der Aufruf, nicht zu stehlen, ist ein Aufruf, in Gerechtigkeit zu leben. Gerechtigkeit ist eine Kardinaltugend, die uns dazu bewegt, jedem das zu geben, was ihm zusteht. Dazu gehört der Respekt vor seinen Rechten, seiner Würde und seinem Besitz. In einer Gesellschaft, in der Gier und der Wunsch nach Anhäufung vorherrschen, wird Gerechtigkeit zu einer Form des Widerstands gegen Strukturen, die Ungleichheit begünstigen.
Doch Gerechtigkeit allein reicht nicht aus, wenn sie nicht von Solidarität begleitet wird. Die Kirche erinnert uns daran, dass wir nicht nur für unsere eigenen Handlungen verantwortlich sind, sondern auch für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft. Dies bedeutet, unsere Güter mit den Bedürftigen zu teilen, für das Gemeinwohl zu arbeiten und Gerechtigkeit in allen Bereichen des Lebens zu fördern.
In seiner Enzyklika Caritas in Veritate erklärt Papst Benedikt XVI: „Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe.“ Mit anderen Worten, wir können nicht von Nächstenliebe oder christlicher Liebe sprechen, wenn wir nicht zuerst danach streben, gerecht zu leben. Indem wir das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ leben, vermeiden wir nicht nur, Böses zu tun, sondern tragen aktiv zum Aufbau einer Gesellschaft bei, die auf Gerechtigkeit, gegenseitigem Respekt und dem Gemeinwohl basiert.
Gier und Konsumismus: Die großen Herausforderungen von heute
Eine der größten Herausforderungen, das siebte Gebot heute zu leben, ist der unmäßige Konsumismus und die Kultur der Gier. In einer Gesellschaft, die das „Haben“ über das „Sein“ stellt, ist es leicht, der Versuchung zu erliegen, unseren persönlichen Wert nach dem zu bemessen, was wir besitzen oder besitzen wollen. Werbekampagnen, soziale Medien und der ständige Druck, mehr materielle Güter zu erwerben, nähren die falsche Vorstellung, dass Glück im Konsum zu finden ist.
Diese Kultur ist nicht nur unvereinbar mit dem christlichen Aufruf zur Einfachheit und Loslösung, sondern perpetuiert ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung und Ungleichgewicht basiert. Papst Franziskus prangert in seiner Enzyklika Laudato Si’ die „Wegwerfkultur“ an, die nicht nur materielle Güter, sondern auch Menschen betrifft. Die Ärmsten und Schwächsten sind oft diejenigen, die am meisten unter diesem System leiden, das den Profit über die menschliche Würde stellt.
Gier, das unstillbare Verlangen, mehr zu besitzen, als wir brauchen, trennt uns nicht nur von Gott, sondern auch von den anderen. Sie macht uns egoistisch, unfähig, die Bedürfnisse der Menschen um uns herum zu erkennen, und hält die strukturelle Ungerechtigkeit aufrecht, die Millionen von Menschen zur Armut verurteilt.
Loslösung und Großzügigkeit: Christliche Antworten
Als Antwort auf diese Realität lädt uns das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ ein, Loslösung und Großzügigkeit zu kultivieren. Loslösung bedeutet nicht, in absoluter Armut zu leben, sondern zu lernen, materielle Güter gerecht und solidarisch zu nutzen, ohne sie unser Leben beherrschen zu lassen. Wie Ignatius von Loyola in seinen Exerzitien lehrt, sind wir dazu berufen, gegenüber materiellen Gütern gleichgültig zu sein und sie nur insoweit zu nutzen, als sie uns Gott näherbringen und dem Dienst am Nächsten dienen.
Die Großzügigkeit hingegen ist eine Tugend, die uns dazu bewegt, das, was wir haben, mit den Bedürftigen zu teilen. Es geht nicht nur um gelegentliche Wohltätigkeit, sondern um eine Lebensweise, die den Nächsten in den Mittelpunkt unserer Entscheidungen stellt. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt uns Jesus, dass wahre Gerechtigkeit und wahre Solidarität im aktiven Fürsorge für andere zum Ausdruck kommen, insbesondere für die Schwächsten.
In einer von Gier geprägten Gesellschaft ist ein großzügiges Leben gegen den Strom zu schwimmen. Es bedeutet, die Logik des Hortens zu durchbrechen und eine Logik des Teilens, des Fürsorge-Tragens und der Wertschätzung von Menschen über Dinge zu übernehmen.
Das Gemeinwohl und die universelle Bestimmung der Güter
Die Soziallehre der Kirche erinnert uns auch daran, dass alle Güter der Erde dem Wohl der gesamten Menschheit dienen sollen. Dieses Prinzip der universellen Bestimmung der Güter fordert uns auf, zu bedenken, dass, obwohl Privateigentum legitim ist, es immer dem Gemeinwohl dienen muss.
Der Katechismus erklärt dies klar: „Im Anfang hat Gott die Erde und ihre Ressourcen der gemeinsamen Verwaltung der Menschheit anvertraut, damit sie sich darum kümmert, sie durch Arbeit unterwirft und sich ihrer Früchte erfreut. Die Güter der Schöpfung sind für das gesamte Menschengeschlecht bestimmt“ (KKK 2402).
In diesem Sinne fordert uns das siebte Gebot heraus, unsere Nutzung von Gütern neu zu überdenken, nicht als exklusiven Besitz, sondern als Ressourcen, die wir verantwortlich im Interesse aller verwalten müssen. Dies impliziert einen Aufruf zur sozialen Gerechtigkeit, zum Kampf gegen die Armut und zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, in der jeder Zugang zu dem hat, was notwendig ist, um in Würde zu leben.
Schlussfolgerung: Ein Aufruf zu sozialer und persönlicher Umkehr
Das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ ist nicht nur eine Regel, um das Böse zu vermeiden, sondern eine Einladung, in Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu leben. In einer Welt, die von Gier und Ungleichheit geprägt ist, sind wir berufen, lebendige Zeichen der Großzügigkeit Gottes zu sein, zu teilen, was wir haben, und aktiv für eine gerechtere und brüderliche Gesellschaft zu arbeiten.
Dieses Gebot heute zu leben, fordert uns heraus, unsere eigenen Einstellungen zu materiellen Gütern zu überdenken, der Konsumkultur zu widerstehen und uns dem Aufbau des Gemeinwohls zu widmen. Auf diese Weise vermeiden wir nicht nur die Sünde des Diebstahls, sondern tragen auch zur Schaffung einer gerechteren Welt bei, in der die Würde jedes Einzelnen respektiert wird und die Güter der Erde gerecht unter allen Menschen geteilt werden.