Die Nächstenliebe: Warum ist sie die wichtigste Tugend für einen Katholiken?

Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe sind die drei theologischen Tugenden, die jeder Christ leben soll. Doch unter diesen dreien nimmt die Nächstenliebe den höchsten Rang ein. Der heilige Paulus bringt dies in seinem Ersten Brief an die Korinther deutlich zum Ausdruck:

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ (1 Korinther 13,13)

Aber warum ist sie die wichtigste? Was macht sie sogar dem Glauben und der Hoffnung überlegen? Um ihre Bedeutung zu verstehen, müssen wir uns mit ihrer Definition, ihrer theologischen Grundlage und ihrer Wirkung auf das christliche Leben befassen.

1. Was ist die Nächstenliebe?

Der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) definiert die Nächstenliebe in den Paragraphen 1822-1829 als „die göttliche Tugend, durch die wir Gott über alles um seiner selbst willen lieben und unseren Nächsten wie uns selbst um der Liebe Gottes willen.“ (KKK 1822).

Diese Definition umfasst zwei wesentliche Elemente:

  1. Gott über alles lieben. Dies bedeutet nicht nur, seine Existenz anzuerkennen, sondern eine tiefe Beziehung zu ihm aufzubauen.
  2. Den Nächsten lieben. Und zwar nicht mit irgendeiner Form von Liebe, sondern mit jener Liebe, die von Gott kommt und im anderen einen Bruder oder eine Schwester erkennt, unabhängig von seiner oder ihrer Situation.

Die Nächstenliebe ist nicht nur ein Gefühl, sondern ein Akt des Willens, erleuchtet durch die göttliche Gnade. Sie erfordert, dass wir uns selbst zurücknehmen, um das Wohl des anderen zu suchen, selbst wenn es Opfer kostet.

2. Die Nächstenliebe in der Heilsgeschichte

Schon im Alten Testament lehrt Gott sein Volk, die Nächstenliebe durch das Gesetz und die Propheten zu leben. Im Buch Deuteronomium heißt es:

„Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Deuteronomium 6,5)

Dieses Gebot wird durch ein weiteres ergänzt:

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Levitikus 19,18)

Im Neuen Testament erhebt Jesus diese beiden Gebote zum höchsten Gesetz des christlichen Lebens. Als ihn ein Pharisäer fragt, welches das größte Gebot sei, antwortet er:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Matthäus 22,37-39)

Die Nächstenliebe ist das Herzstück des Evangeliums. Sie ist das Wesen der Botschaft Christi und das Kriterium, nach dem wir gerichtet werden, wie es in der Gleichnisrede vom Weltgericht in Matthäus 25,31-46 heißt: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben…“

3. Die Nächstenliebe und die anderen theologischen Tugenden

Die theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe) sind eng miteinander verbunden. Der Glaube ermöglicht es uns, Gott zu erkennen, die Hoffnung trägt uns auf dem Weg zu ihm, aber nur die Nächstenliebe vereint uns vollständig mit ihm. Der heilige Thomas von Aquin erklärt, dass Glaube und Hoffnung im Himmel aufhören werden (weil wir Gott dann von Angesicht zu Angesicht sehen und nicht mehr hoffen müssen), doch die Nächstenliebe bleibt ewig bestehen.

Wie es im Katechismus heißt:

„Die Nächstenliebe ist die größte der Tugenden. Sie ist die erste der göttlichen Tugenden.“ (KKK 1826)

Ohne Nächstenliebe ist selbst der Glaube wertlos, wie der heilige Paulus betont:

„Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte und wenn ich allen Glauben besäße, sodass ich Berge versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.“ (1 Korinther 13,2)

Die Nächstenliebe gibt allen anderen Tugenden Leben und Sinn.

4. Praktische Anwendung der Nächstenliebe im christlichen Leben

Die Nächstenliebe ist keine abstrakte Idee, sondern eine konkrete Tugend, die täglich gelebt werden muss. Wie können wir sie heute praktizieren?

a) In der Familie

Das Zuhause ist die erste Schule der Nächstenliebe. Ehepartner sind dazu berufen, sich mit einer opferbereiten und großzügigen Liebe zu lieben. Eltern lehren ihre Kinder die Nächstenliebe, indem sie sie zum Teilen, Vergeben und Dienen erziehen.

b) In der Gesellschaft

Wir leben in einer Welt, die von Gleichgültigkeit und Egoismus geprägt ist. Nächstenliebe bedeutet, sich um die Armen, Kranken, Migranten und Leidenden zu kümmern. Papst Franziskus ruft uns dazu auf, nicht eine „Liebe mit Worten“, sondern eine konkrete und aktive Nächstenliebe zu leben.

c) In der Kirche

Die christliche Gemeinschaft sollte der Ort sein, an dem die Nächstenliebe am meisten erstrahlt. Die Urkirche lebte die Nächstenliebe auf radikale Weise:

„Und nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“ (Apostelgeschichte 4,32)

Auch heute sind wir aufgerufen, dieses Zeugnis durch Geschwisterlichkeit, Dienst und Barmherzigkeit fortzusetzen.

5. Die Nächstenliebe im Leben der Heiligen

Die Heiligen sind lebendige Vorbilder der Nächstenliebe. Einige Beispiele:

  • Der heilige Vinzenz von Paul, der sein Leben den Armen widmete.
  • Die heilige Mutter Teresa von Kalkutta, die sich den Vergessenen zuwandte.
  • Der heilige Franz von Assisi, der Aussätzige umarmte und alles aus Liebe zu Gott aufgab.

Alle verstanden, dass wahre Liebe bedeutet, sich selbst zu verschenken und dass die größte Freude im Dienen liegt.

6. Die Nächstenliebe in der heutigen Welt

In einer Welt, die von Krieg, Spaltung und Gleichgültigkeit geprägt ist, ist die Nächstenliebe dringender denn je. Heute sind wir aufgerufen:

  1. Zeugen der Liebe Gottes zu sein in einer Welt, die den Sinn der wahren Liebe verloren hat.
  2. Gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer anzukämpfen.
  3. Die Nächstenliebe im Kleinen zu leben, im Alltag, mit den Menschen um uns herum.

Papst Benedikt XVI. sagte in seiner Enzyklika Deus Caritas Est:

„Christ sein beginnt nicht mit einer ethischen Entscheidung oder einer großen Idee, sondern mit der Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.“ (Deus Caritas Est, 1)

Und diese Person ist Christus, der uns durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung gelehrt hat:

„Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ (Johannes 15,13)

Schlussfolgerung: Ohne Nächstenliebe sind wir nichts

Die Nächstenliebe ist das Wesen des Christentums. Sie ist nicht optional, sondern das Erkennungsmerkmal des Jüngers Christi:

„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Johannes 13,35)

Mehr als eine Tugend ist die Nächstenliebe das Leben Gottes in uns. Am Ende unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet.

Leben wir sie mit Großzügigkeit, Hingabe und Freude. Wie die heilige Thérèse von Lisieux sagte:

„Im Herzen der Kirche werde ich die Liebe sein.“

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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