EINFÜHRUNG: EINE EINLADUNG, DEN HIMMEL INMITTEN DES LÄRMS ZU ATMEN
Wir leben im Eiltempo. Wir stehen gehetzt auf, füllen unsere Tage mit Bildschirmen, Benachrichtigungen und Verpflichtungen und gehen mit einem Gefühl der Erschöpfung ins Bett, das nicht nur körperlich, sondern oft existenziell ist. Inmitten dieses Wirbelwinds suchen viele nach einem Moment der Ruhe, einem Kompass für die Seele, einer Möglichkeit, sich wieder mit Gott zu verbinden. Der heilige Ignatius von Loyola, Gründer der Gesellschaft Jesu, hat uns einen stillen, aber kraftvollen spirituellen Schatz hinterlassen: die „Ignatianische Pause“ oder das tägliche Gewissenserforschungsgebet (Examen).
Diese Übung in fünf Schritten, die nur zehn Minuten dauern kann, ist keine bloße Meditationsmethode. Sie ist eine Schule der Unterscheidung, eine konkrete Art und Weise, Gott in allen Dingen zu erkennen – selbst im Chaos, im Schmerz, im Alltag. Heute, mehr denn je, müssen wir diese Kunst wiederentdecken, mit einer wachen Seele zu leben.
I. SPIRITUELLE WURZELN: DAS EXAMEN IN DER IGNATIANISCHEN TRADITION
Was ist das ignatianische Examen?
In seinem Werk Exerzitien schlägt der heilige Ignatius die allgemeine Gewissenserforschung nicht bloß als Rückblick auf Sünden vor, sondern als einen bevorzugten Moment des Dialogs mit Gott. Es ist kein kaltes Gericht, sondern ein Liebesgespräch zwischen dem Schöpfer und seiner Kreatur.
Ignatius verlangte von seinen Ordensleuten, dieses Examen zweimal täglich zu machen. Für ihn war es ein unverzichtbares Werkzeug, um das Herz auf Gott auszurichten.
„In allem lieben und dienen.“ — Heiliger Ignatius von Loyola
Biblische Grundlage
Die Idee, das eigene Leben im Licht Gottes zu prüfen, stammt nicht ursprünglich von Ignatius, sondern ist zutiefst biblisch. Der heilige Paulus fordert auf:
„Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben seid; stellt euch selbst auf die Probe!“
(2 Korinther 13,5)
Und Psalm 139 bittet:
„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken!“
(Psalm 139,23)
Dieses Examen ist keine narzisstische Introspektion, sondern verkörpertes Gebet: Gott erlaubt, unseren Tag mit uns anzuschauen und uns zu lehren, mit seinen Augen zu sehen.
II. THEOLOGISCHE RELEVANZ: UNTERSCHEIDEN, UM BESSER ZU LIEBEN
Ein Akt des Glaubens und der Demut
Das tägliche Prüfen des eigenen Lebens ist ein Akt des Glaubens: zu erkennen, dass Gott in unserer konkreten Geschichte gegenwärtig ist. Es ist auch ein Akt der Demut: anzuerkennen, dass wir tägliche Umkehr brauchen.
In der spirituellen Theologie gilt das tägliche Examen als eine Praxis der beständigen Unterscheidung. Es hilft, die Bewegungen der Seele zu erkennen: Welche Gedanken, Gefühle oder Entscheidungen haben mich heute Gott nähergebracht? Welche haben mich von ihm entfernt?
Heiligkeit im Alltag
Das Zweite Vatikanische Konzil betonte die allgemeine Berufung zur Heiligkeit. Aber Heiligkeit wird nicht durch große Gesten erreicht, sondern durch tägliche Entscheidungen. Das Examen hilft uns, das Kleine bewusst wahrzunehmen, und gerade dort heiligt uns Gott.
III. EIN PRAKTISCHER IGNATIANISCHER LEITFADEN: FÜNF SCHRITTE, DIE DEIN LEBEN VERÄNDERN
Der heilige Ignatius hinterließ uns eine konkrete Struktur, die man jeden Abend anwenden kann. Hier stellen wir sie mit einer pastoralen, theologischen und sehr aktuellen Auslegung vor:
1. Danken
Warum mit Dankbarkeit beginnen? Weil alles Gnade ist. Dankbarkeit rückt den Mittelpunkt der Welt von uns selbst zurück auf Gott.
So geht’s: Schließe die Augen und geh deinen Tag durch. Welche Momente, Gesten, Worte oder Menschen waren ein Geschenk Gottes? Egal wie klein sie erscheinen mögen.
„Sagt in allem Dank! Denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus.“
(1 Thessalonicher 5,18)
Pastorale Anwendung: Dankbarkeit reinigt die Seele von Groll und Klage. Sie ist ein spiritueller Impfstoff gegen Hoffnungslosigkeit.
2. Um Licht bitten
Bevor du dich selbst prüfst, rufe den Heiligen Geist an. Es geht nicht darum, dich mit deinen eigenen Augen zu sehen, sondern mit den Augen Gottes. Das Examen ist nicht dazu da, dich anzuklagen, sondern dich zu erleuchten.
So geht’s: Mit einem kurzen Gebet: „Herr, zeig mir, was Du siehst. Hilf mir, mit Deiner Sanftheit zu schauen.“
„Der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes.“
(1 Korinther 2,10)
Pastorale Anwendung: Diese demütige Bitte bewahrt vor Skrupel oder Oberflächlichkeit. Sie stellt uns als Kinder vor Gott – nicht als Richter.
3. Den Tag durchgehen
Dies ist das Herzstück der Übung. Es geht nicht darum, die Stunden wie einen Terminkalender durchzublättern, sondern beim Kern der Handlungen zu verweilen.
So geht’s: Frage dich:
- In welchen Momenten war ich dem Evangelium treu?
- Wann habe ich geliebt, zugehört, vergeben, mich hingegeben?
- Wann war ich egoistisch, gleichgültig, stolz?
- Welche Gedanken dominierten meinen Geist?
- Welchem „Geist“ bin ich heute gefolgt: dem Gottes oder dem der Welt?
Pastorale Anwendung: Dieser Schritt ist pädagogisch: er hilft, Muster, dominante Gefühle, wiederkehrende Versuchungen zu erkennen. Es ist das beste Training zur Unterscheidung.
4. Um Vergebung bitten
Nicht aus neurotischer Schuld, sondern aus reuiger Liebe. Das tägliche Examen führt dazu, die eigene Sünde zu erkennen und die Barmherzigkeit zu erfahren.
So geht’s: Benenne vor Gott, was dich heute an dir selbst enttäuscht hat. Bitte Ihn einfach um Vergebung. Wenn du gefallen bist, sag: „Herr, richte mich auf.“
„Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst Du, Gott, nicht verschmähen.“
(Psalm 51,19)
Pastorale Anwendung: Diese Handlung bereitet das Herz auf das sakramentale Bekenntnis vor. Sie lehrt Demut und befreit vom geistlichen Perfektionismus.
5. Einen Vorsatz fassen
Nur zu schauen reicht nicht. Wahre Liebe führt zu einem konkreten Entschluss. Dieser letzte Schritt ist ein Geschenk: „Herr, morgen will ich so leben…“
So geht’s: Wähle eine konkrete Handlung zur Verbesserung: eine Tugend zu üben, einer Versuchung zu widerstehen, eine Haltung zu entwickeln.
Pastorale Anwendung: Der Vorsatz verbindet das tägliche Examen mit echter Umkehr. Schritt für Schritt verändert dieser Punkt dein ganzes Leben.
IV. WIE DU DIE IGNATIANISCHE PAUSE IN DEIN MODERNES LEBEN INTEGRIERST
Du brauchst kein Retreat auf dem Land oder eine stille Kapelle. Ein ruhiger Ort und ein williges Herz genügen. Hier einige konkrete Vorschläge:
- Wähle eine feste Tageszeit: idealerweise vor dem Schlafengehen.
- Führe ein geistliches Tagebuch: notiere Einsichten und Vorsätze.
- Mache es in Gemeinschaft oder als Paar: das Teilen des Examens kann sehr bereichernd sein.
- Verbinde es mit dem Nachtgebet: füge Psalm 4 oder das Magnificat hinzu.
- Keine Sorge, wenn du es einmal vergisst: mach am nächsten Tag einfach friedlich weiter.
V. ZEUGNISSE VERWANDELTER LEBEN
Viele Heilige – auch moderne – haben das ignatianische Examen praktiziert. Papst Johannes Paul II. tat es täglich. Papst Franziskus, selbst Jesuit, hat es als Werkzeug zur Seelenbildung empfohlen.
Viele Laien berichten, dass sie, seit sie diese Praxis eingeführt haben, erkannt haben, wie Gott selbst im Alltäglichen handelt, und gelernt haben, bewusster, dankbarer und kohärenter zu leben.
SCHLUSSFOLGERUNG: EIN ERLEUCHTETES LEBEN UND EINE FREIERE SEELE
Die ignatianische Pause ist mehr als eine spirituelle Technik. Sie ist eine Lebensweise, eine konkrete Methode, jeden Tag zu einer Opfergabe und jeden Moment zu einer Gelegenheit zu machen, zu lieben.
Wenn du jeden Abend zehn Minuten nimmst, um dein Leben mit Gott zu betrachten, wirst du sehen, wie dein Herz freier wird, dein Gewissen klarer und dein Glaube lebendiger. Es geht nicht darum, alles zu kontrollieren, sondern darum, Gott zu erlauben, dich zu lehren, mit offenen Augen zu leben.
Probiere es heute Abend aus. Schenke deiner Seele diesen Moment. Und der morgige Tag wird anders sein.
Wo anfangen?
Heute Abend. Schalte dein Handy aus, schließe die Augen und sage: „Herr, ich möchte meinen Tag mit Dir sehen…“