Die „Geistliche Wüste“ der Mystiker: Was lehren uns Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila?

Im weiten Universum der katholischen Spiritualität gibt es kaum ein Thema, das so geheimnisvoll und tiefgründig ist wie das Konzept der „geistlichen Wüste“. Obwohl dieser Begriff nicht direkt von Johannes vom Kreuz oder Teresa von Ávila verwendet wurde, fasst er eine wesentliche Erfahrung im Leben vieler Gläubiger zusammen: Momente der Trockenheit, Dunkelheit und scheinbaren Entfernung von Gott. Die großen mystischen Lehrer des Karmelitenordens bieten zeitlose Lehren, die auch in unserer modernen Welt, voller Ablenkungen und spiritueller Herausforderungen, tief nachhallen.


Was ist die „Geistliche Wüste“?

Die „geistliche Wüste“ darf nicht mit einem Mangel an Glauben oder einem Zustand der Sünde verwechselt werden. Vielmehr handelt es sich um eine Zeit, in der die Seele, obwohl sie Gott aufrichtig sucht, Seine Gegenwart nicht spürt oder die Tröstungen, die sie zuvor im Gebet oder im sakramentalen Leben empfing, nicht mehr erlebt. Es ist ein göttliches Paradoxon: Gott, der immer gegenwärtig ist, scheint abwesend.

Johannes vom Kreuz beschreibt diese Erfahrung als die „Dunkle Nacht“, eine Zeit der Reinigung, die für das geistliche Wachstum notwendig ist. Teresa von Ávila spricht in ihrem Weg der Vollkommenheit und ihrer Inneren Burg über ähnliche Erfahrungen und beschreibt Phasen, in denen die Seele durch eine dürre Wüste wandert, die in Wirklichkeit Schritte auf dem Weg zu einer tieferen Vereinigung mit Gott sind.


Die „Geistliche Wüste“ bei Johannes vom Kreuz

Johannes vom Kreuz unterteilt die Dunkle Nacht in zwei Hauptphasen:

1. Die Dunkle Nacht der Sinne

In dieser ersten Phase zieht Gott die fühlbaren Tröstungen zurück, die die Seele zuvor erlebt hat. Johannes erklärt, dass dies notwendig ist, damit die Seele lernt, nicht von Emotionen oder Empfindungen abhängig zu sein, um sich Gott zu nähern. Der Glaube, der über die Sinne hinausgeht, wird zum Hauptführer der Seele.

2. Die Dunkle Nacht des Geistes

In dieser Phase tritt die Seele in eine noch tiefere Wüste ein, in der selbst intellektuelle Sicherheiten gereinigt werden. Dieser Prozess, schmerzhaft, aber transformierend, hilft der Seele, sich von allem zu lösen, was nicht Gott ist, und führt sie schließlich zur vollständigen mystischen Vereinigung.


Die „Geistliche Wüste“ bei Teresa von Ávila

Für Teresa von Ávila ist das geistliche Leben eine Reise zum Zentrum der Seele, wo Gott wohnt. In ihrem Werk Die innere Burg beschreibt sie, wie Seelen auf ihrem Weg zur göttlichen Vereinigung verschiedene Wohnungen durchlaufen. In den mittleren und fortgeschrittenen Phasen können Seelen Trockenheit und Trostlosigkeit erfahren.

Teresa lehrt, dass diese Momente kein Zeichen des geistlichen Scheiterns sind, sondern eine Einladung, Gott tiefer zu vertrauen. Das Gebet, auch wenn es trocken erscheint, bleibt ein Akt der Liebe und des Glaubens. Wie sie selbst sagte: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles vergeht. Gott ändert sich nicht.“


Warum erleben wir die „Geistliche Wüste“?

Die „geistliche Wüste“ ist keine Strafe, sondern eine verborgene Gnade. Hier sind einige Gründe, warum sie auftreten kann:

  1. Reinigung der Seele
    Gott nutzt diese Erfahrungen, um die Seele von ungeordneten Anhänglichkeiten, sowohl materiellen als auch geistigen, zu reinigen.
  2. Wachstum im Glauben und Vertrauen
    Wenn die Tröstungen entzogen werden, lernt die Seele, Gott nicht um dessen Willen zu vertrauen, was sie fühlt, sondern um dessen Willen, wer Er ist.
  3. Vorbereitung auf die göttliche Vereinigung
    Die Wüste bereitet die Seele darauf vor, eine tiefere Liebe und eine intimere Beziehung zu Gott zu empfangen.

Praktische Anwendungen für den Alltag

Die Botschaft von Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila beschränkt sich nicht auf Klöster und Konvente. Auch in unserem modernen Leben können wir „geistliche Wüsten“ durchlaufen. Diese praktischen Tipps können Ihnen helfen, diese Momente zu meistern:

1. Beharrlichkeit im Gebet

Auch wenn das Gebet trocken erscheint, beten Sie weiter. Die Treue in diesen Momenten ist ein kraftvoller Ausdruck der Liebe.

2. Vertrauen auf Gott

Denken Sie daran, dass Gott bei Ihnen ist, auch wenn Sie Seine Gegenwart nicht spüren. Lesen Sie die Heilige Schrift, insbesondere die Psalmen, die in Zeiten der Trostlosigkeit Trost spenden.

3. Geistliche Begleitung

Suchen Sie einen geistlichen Begleiter, der Ihnen hilft, diese Erfahrungen zu deuten. Ein Priester oder ein geistlicher Berater kann Klarheit und Unterstützung bieten.

4. Die Sakramente

Die Sakramente, insbesondere die Eucharistie und die Beichte, sind Quellen der Gnade, die die Seele auch in Zeiten der Trockenheit tragen.

5. Dankbarkeit praktizieren

Danken Sie Gott, sogar für die geistlichen Wüsten. Diese Erfahrungen, so schwierig sie auch sein mögen, sind Geschenke, die uns nach Seinem Willen formen.


Lektionen für unsere Zeit

In einer Welt, die auf Unmittelbarkeit und Vergnügen setzt, erinnert uns die „geistliche Wüste“ an die Bedeutung von Geduld und Tiefe. Geistliche Trockenheit kann eine Gelegenheit sein, sich von Ablenkungen zu lösen und unser Leben wieder auf Gott auszurichten.

Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila lehren uns, dass wahre Liebe nicht an dem gemessen wird, was wir fühlen, sondern an unserer Treue, selbst in der Dunkelheit. Ihre Worte sind eine Einladung, das Geheimnis Gottes zu umarmen und Ihm zu vertrauen, auch wenn wir Ihn nicht sehen können.


Fazit: Der Weg zum Licht

Die „geistliche Wüste“ ist nicht das Ende des Weges, sondern ein notwendiger Schritt zu einer tieferen Gemeinschaft mit Gott. Wie Johannes vom Kreuz schreibt: „Um dahin zu gelangen, wo du nicht weißt, musst du den Weg gehen, den du nicht weißt.“ Und Teresa fügt hinzu: „Gott allein genügt.“

Wenn Sie sich in einer geistlichen Wüste befinden, denken Sie daran, dass Sie nicht allein sind. Die großen mystischen Lehrer des Karmelitenordens sind diesen Weg bereits gegangen und haben eine geistliche Landkarte hinterlassen, um uns zu führen. Beharren Sie, vertrauen Sie und lassen Sie zu, dass Gott Sie in die Tiefen Seiner ewigen Liebe führt.

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

Auch ansehen

Lignum Crucis: Das Heilige Holz, das die Geschichte Veränderte

Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Kreuz zum zentralen Symbol des Christentums und erinnert uns …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

error: catholicus.eu