„Steig also auf, meine Seele, und zögere nicht; richte deine Schritte auf den Gipfel des Berges, wo Gott sich offenbart.“
— Hl. Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum, Prolog 1
I. Einleitung: Was kann uns ein Mystiker des 13. Jahrhunderts heute lehren?
Inmitten der ständigen Unruhe, der Übervernetzung und der spirituellen Erschöpfung unserer modernen Welt scheint ein theologischer Text, geschrieben von einem Franziskanermönch im 13. Jahrhundert, auf den ersten Blick wenig Relevanz zu besitzen. Und doch ist es gerade in diesem heutigen Chaos, dass die Stimme des heiligen Bonaventura wie ein ruhiger Leuchtturm aufleuchtet und uns einlädt, unser Herz neu auf die Quelle aller Wahrheit, Schönheit und Liebe auszurichten: auf Gott.
Der heilige Bonaventura (1217–1274), bekannt als der „seraphische Lehrer“, war nicht nur ein brillanter Theologe und Generalminister des Franziskanerordens, sondern auch ein tief mystisch geprägter Mann, verwurzelt in der Spiritualität des heiligen Franz von Assisi. Sein berühmtestes Werk, Itinerarium mentis in Deum (Der Aufstieg der Seele zu Gott), geschrieben im Jahr 1259 während einer Pilgerreise auf den Berg La Verna – jenen Ort, an dem Franziskus die Wundmale Christi empfing –, ist ein Juwel christlicher Mystik und ein spiritueller Wegweiser von erstaunlicher Aktualität, auch nach acht Jahrhunderten.
II. Historischer und spiritueller Kontext des Itinerariums
Bonaventura lebte in einer Zeit des intellektuellen Aufbruchs. Die Wiederentdeckung der aristotelischen Philosophie und der Aufstieg der Universitäten verwandelten die Theologie zunehmend in eine exakte Wissenschaft. Obwohl Bonaventura selbst in Paris studierte und ein außerordentlich kluger Kopf war, erkannte er doch, dass Theologie nicht bloß spekulatives Wissen sein durfte. Wahre Erkenntnis muss zur Liebe führen. Ziel war nicht einfach, mehr zu wissen, sondern besser zu lieben.
Inspiriert von Franz von Assisi entwarf Bonaventura einen geistlichen Weg, der Vernunft und Kontemplation, Studium und Anbetung, Erkenntnis und Zuneigung vereinte. Sein Itinerarium ist kein systematischer Traktat, sondern ein gelebter geistlicher Führer, geschrieben für alle, die Gott von ganzem Herzen suchen.
III. Aufbau und Inhalt des Itinerariums mentis in Deum
Das Itinerarium ist in sieben Stufen oder „Grade“ gegliedert, die den Prozess der Reinigung und des Aufstiegs der Seele zu Gott abbilden. Diese Struktur ist von trinitarischem und augustinischem Denken geprägt. Jede Stufe ist ein weiterer Schritt hin zur Vereinigung mit dem Schöpfer.
- Gottes Spuren in der Schöpfung betrachten
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, das Firmament verkündet das Werk seiner Hände.“ (Ps 19,2)
In der Schönheit der Natur – in Pflanzen, Tieren, den Gestirnen – erkennen wir die Spuren des Schöpfers. Diese Stufe lädt uns dazu ein, das Staunen wiederzuentdecken und Gottes Gegenwart in allem zu erkennen. - Gott im menschlichen Geist (seinem Bild) erkennen
Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen (vgl. Gen 1,27). In der Selbsterkenntnis und im Blick nach innen entdecken wir Gottes Präsenz in uns selbst. - Gott durch die Seelenkräfte erkennen (Gedächtnis, Verstand, Wille)
Diese Stufe zeigt, wie jede geistige Fähigkeit des Menschen zu Gott hinführt: das Gedächtnis bewahrt das Gute, der Verstand sucht die Wahrheit, der Wille liebt das Gute. - Gottes ewiges, unveränderliches Wesen betrachten
Nachdem wir die Schöpfung und die Seele betrachtet haben, führt uns der Weg zur Kontemplation des göttlichen Wesens: das einfache, ewige, notwendige Sein Gottes. Hier verstummt die Vernunft vor dem Geheimnis. - Betrachtung des einen und dreifaltigen Gottes
Gott ist keine isolierte Monade, sondern lebendige Gemeinschaft. Diese Stufe ist zutiefst christlich: Wir erkennen, dass der eine Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist ist – eine ewige Liebesbeziehung, die sich uns mitteilt. - Gott durch den gekreuzigten Christus betrachten
Der Zugang zum Vater führt über den Sohn. In Christus, dem Gekreuzigten, erkennen wir die höchste Offenbarung göttlicher Weisheit und Barmherzigkeit. Bonaventura betont: Nur wer den Gekreuzigten betrachtet, kann wahrhaft zum Vater aufsteigen. - Mystische Vereinigung mit Gott (Ekstase und Ruhe in Ihm)
Der Höhepunkt der Reise ist nicht intellektuelle Erkenntnis, sondern eine Liebeserfahrung – der „Sabbat“ der Seele. Hier wird nicht mehr gesprochen oder gedacht, sondern geliebt, geschaut, angebetet. Es ist die Ekstase – nicht emotionale Aufwallung, sondern das Hinaustreten aus sich selbst in das Sein Gottes.
IV. Theologische Bedeutung des Itinerariums heute
1. Eine Theologie des Herzens
Bonaventura erinnert uns: Gott zu erkennen ist nicht nur eine Frage des Verstandes, sondern vor allem der Liebe. Diese Botschaft ist heute besonders wichtig in einer Zeit, die den Glauben oft intellektualisiert und von der Erfahrung trennt.
2. Eine verkörperte Mystik, zentriert auf Christus
In einer Welt voller vager und unpersönlicher Spiritualität bietet das Itinerarium eine tief christozentrische Mystik – konzentriert auf den gekreuzigten Christus, der das menschliche Leiden nicht meidet, sondern heiligt.
3. Eine christliche Sicht auf Ökologie
Die Welt als „Spur Gottes“ zu sehen, führt zu einer Spiritualität der Achtsamkeit. Die Schöpfung ist keine Ressource zur Ausbeutung, sondern eine Offenbarung Gottes – ein Gedanke, der eine christlich geprägte integrale Ökologie ermöglichen kann.
4. Eine Antwort auf die existenzielle Leere unserer Zeit
Das Itinerarium bietet einen Weg zum Sinn in einer Welt voller Nihilismus, Individualismus und Fragmentierung. Es ist eine Pädagogik der Seele, die uns lehrt, mit Gott in der Welt zu leben.
V. Spiritueller und pastoraler Leitfaden: Wie man das Itinerarium heute leben kann
Stufe 1: Die Schöpfung wieder staunend betrachten
- Jeden Tag bewusst einen Moment draußen verbringen und die Natur mit Dankbarkeit betrachten.
- Jedes Geschöpf als Zeichen göttlicher Güte sehen – ein Baum, eine Blume, ein Lächeln.
- Gebetsvorschlag: „Herr, lehre mich, Dein Antlitz in allem, was Du geschaffen hast, zu erkennen.“
Stufe 2: Ehrlich nach innen schauen
- Tägliche Gewissenserforschung – nicht als Kontrolle, sondern als Suche nach Wahrheit.
- Über eigene Wünsche, Gedanken und Entscheidungen im Licht des Heiligen Geistes nachdenken.
Stufe 3: Gedächtnis, Verstand und Wille Gott weihen
- Erinnern mit Dankbarkeit (Gedächtnis), Lernen mit Demut (Verstand), Lieben mit Großherzigkeit (Wille).
- Gebet: „Herr, nimm mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen Willen; alles gehört Dir.“ (vgl. Ignatius von Loyola)
Stufe 4: Gott in seinem Geheimnis anbeten
- Zeit in Stille vor dem Allerheiligsten verbringen. Nichts sagen. Nur schauen.
- Den Psalm 139 beten: „Herr, Du hast mich erforscht und erkannt…“
Stufe 5: In die Gemeinschaft mit der Dreifaltigkeit eintreten
- Das „Ehre sei dem Vater“ mit neuer Tiefe beten.
- Gemeinschaft leben: Die Dreifaltigkeit ist ein Modell der Liebe. Frieden stiften statt spalten.
Stufe 6: Den Gekreuzigten betrachten
- Täglich einige Minuten vor einem Kreuz verbringen.
- Sich fragen: Was sagt mir Jesus heute vom Kreuz herab?
- Schlüsselvers: „Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.“ (Joh 19,37)
Stufe 7: In Gott ruhen
- Lernen, mit Gott zu sein – ohne Worte. Nicht immer handeln – einfach da sein.
- Den Namen Jesu im Herzen wiederholen wie ein Atemgebet.
VI. Schluss: Ein Weg aus Feuer und Sanftheit
Das Itinerarium mentis in Deum ist keine esoterische Reise und kein System spiritueller Techniken. Es ist der Weg einer verliebten Seele – einer Seele, die nach Gott dürstet. Der heilige Bonaventura ist ihn gegangen in franziskanischer Demut, mit den Füßen auf der Erde und den Augen zum Himmel gerichtet. Und heute lädt er uns ein, denselben Weg zu gehen.
Denn das menschliche Herz sucht noch immer nach Gott. Denn das Kreuz ist noch immer der Thron der Liebe. Denn in einer Welt, die das Schweigen vergessen hat, flüstert die Seele noch immer: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ (Ps 42,3)
Bist du bereit, diesen Weg zu gehen? Der erste Schritt ist das Innehalten. Der zweite das Sehen. Der dritte… das Lieben.