Der Brief des Lentulus: Ein Blick auf Christus aus der Antike

Einleitung

In den Annalen der christlichen Geschichte gibt es gewisse Texte, die – obwohl sie nicht offiziell von der Kirche als authentisch anerkannt sind – über Jahrhunderte hinweg die Frömmigkeit und Kontemplation der Gläubigen inspiriert haben. Einer dieser geheimnisvollen und faszinierenden Texte ist der Brief des Lentulus. Dieser wird angeblich einem römischen Statthalter aus der Zeit Jesu – Publius Lentulus – zugeschrieben und enthält eine bewegende Beschreibung der Gestalt Christi.

Ist er echt oder eine fromme Erfindung? Hat er uns heute, in einer bilderüberfluteten Welt, die nach Echtheit dürstet, noch etwas zu sagen? Dieser Artikel will dir nicht nur den historischen Kontext dieses Briefes näherbringen, sondern dir helfen, Jesus mit neuen Augen zu sehen – mit den Augen des Herzens – als geistlichen Wegweiser für dein eigenes Leben.


Was ist der Brief des Lentulus?

Der Brief des Lentulus ist ein Text, der angeblich von einem römischen Beamten zur Zeit Jesu verfasst wurde. Überliefert wird, dass Lentulus ein Vorgänger oder Zeitgenosse von Pontius Pilatus in Judäa gewesen sei. In dem Brief, der entweder an den römischen Senat oder an Kaiser Tiberius adressiert ist (je nach Version), beschreibt Lentulus in detailreicher Weise das äußere Erscheinungsbild, das Verhalten und den Charakter von Jesus von Nazareth.

Ein repräsentativer Auszug lautet:

„In dieser Zeit erschien ein Mensch, der lebt bis heute. Sein Name ist Jesus Christus. Das Volk nennt ihn einen wahren Propheten, seine Jünger aber den Sohn Gottes. Er erweckt Tote zum Leben und heilt jede Art von Krankheit…
Er ist ein Mann von stattlicher Gestalt, von ehrwürdigem Aussehen, das Liebe und Ehrfurcht zugleich bei denen hervorruft, die ihn ansehen. Sein Haar ist von der Farbe reifen Weines und fällt in sanften Locken auf seine Schultern. Seine Stirn ist breit und ruhig, seine Augen durchdringend, wie das Meer…
Er strahlt natürliche Würde aus, und seine Worte sind voller Weisheit. Nie ist ein Mensch unter den Sterblichen gesehen worden, der ihm gleich käme.“

Diese Darstellung hat im Lauf der Jahrhunderte Künstler und Mystiker inspiriert. Viele mittelalterliche und sogar Renaissance-Darstellungen Jesu spiegeln dieses majestätische, barmherzige und zutiefst menschliche Bild Christi wider.


Ist der Brief echt?

Aus historischer und philologischer Sicht ist die Echtheit des Briefes äußerst zweifelhaft. Er findet sich in keiner römischen Quelle aus der Antike und enthält Anachronismen, die auf das Mittelalter hinweisen. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass der Text zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert entstanden ist – als Frömmigkeitsübung oder spirituelle Meditation.

Doch die Tatsache, dass der Brief kein historisch zuverlässiges Dokument aus dem 1. Jahrhundert ist, schmälert nicht unbedingt seinen geistlichen Wert. Wie viele fromme Legenden stellt er eine Art visuelle Lectio Divina dar – eine schriftlich gefasste Meditation über das Antlitz Christi, nicht zum Informieren, sondern zum Kontemplieren gedacht.


Theologische Bedeutung: Das Angesicht Christi

In der katholischen Theologie steht die Betrachtung des Angesichts Christi im Zentrum des geistlichen Lebens. Der heilige Paulus schreibt:

„Wir alle aber, die wir mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel schauen, werden verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit…“ (2 Korinther 3,18)

Der Brief des Lentulus kann als Hilfsmittel verstanden werden, um diesem Ruf zur verwandelnden Betrachtung nachzukommen. Wichtiger als die exakten Details der Beschreibung ist, was sie in uns auslöst: Christus wirklich zu begegnen, den inneren Blick auf ihn zu richten – und dadurch verwandelt zu werden.

Das Zweite Vatikanische Konzil erinnert uns in Gaudium et Spes daran:

„Das Geheimnis des Menschen wird nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes wirklich klar.“ (GS 22)

Christus zu sehen – oder besser: ihn im Geist und in Wahrheit zu betrachten – ist der tiefste Weg, uns selbst zu erkennen, Heilung zu erfahren und zur Heiligkeit zu gelangen.


Praktische Anwendung: Was kann uns dieser Brief heute lehren?

1. Das Antlitz Christi neu betrachten

Inmitten einer Kultur der Bilder – schnell, oberflächlich, manipuliert – lädt uns der Brief des Lentulus ein, innezuhalten. Wann hast du zum letzten Mal einfach still vor einem Kreuz oder einer Christusikone verweilt, ohne etwas zu sagen oder zu bitten? Nur um bei ihm zu sein?

Geistliche Übung: Verweile jeden Tag fünf Minuten vor einem Christusbild – demjenigen, das dich am meisten anspricht – und wiederhole innerlich: „Lass dein Angesicht leuchten, Herr“ (vgl. Psalm 27,8). Sprich sonst nichts. Betrachte einfach.

2. Vereinigung von Menschheit und Gottheit

Der Text zeigt einen Jesus, der Majestät ausstrahlt und zugleich zärtlich ist, würdevoll, aber nicht hochmütig. Dies ist das Herz der christologischen Lehre: Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch.

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen…“ (Johannes 1,14)

Christus zu betrachten, macht uns menschlicher. Es erinnert uns daran, dass Heiligkeit nicht das Gegenteil von Menschlichkeit ist – sondern deren Vollendung. Christusähnlich zu sein bedeutet, zutiefst menschlich und wahrhaftig zu sein.

3. Die Schönheit als Weg zu Gott

Der Brief des Lentulus hebt eine stille, ruhige Schönheit bei Jesus hervor – keine oberflächliche oder sinnliche, sondern eine moralische, spirituelle Schönheit. Diese Schönheit, von der Dostojewski sagte: „Die Schönheit wird die Welt retten.“

Praktischer Impuls: Umgib dich mit Dingen, die dich zu Gott führen – sakrale Kunst, heilige Musik, gute Worte, edle Taten. Erziehe dein Herz zur Sehnsucht nach dem Wahren, Guten und Schönen.


Geistliche Wegweisung durch die Betrachtung Christi

Für Verletzte durch die Kirche:

Viele sind durch Skandale, Klerikalismus oder persönliche Enttäuschungen von der Kirche verletzt. Das in Lentulus’ Brief beschriebene Antlitz Christi kann zum Balsam werden: nicht das Gesicht der Macht, sondern der Liebe. Nicht sofortiges Urteil, sondern stilles Willkommen.

Seelsorgerlicher Rat: Kehre zum Evangelium zurück. Schau auf den Jesus der Armen, der Sünder, der Kinder. Begegne ihm neu, ohne Vorurteile. Beginne mit dem langsamen, betenden Lesen des Markus-Evangeliums.

Für Suchende nach dem wahren Jesus:

Viele Menschen heute suchen nach Echtheit. Der in Lentulus’ Brief geschilderte Jesus ist einer, der ohne Zwang Ehrfurcht hervorruft, der erschüttert, aber nicht manipuliert – der mit einem einzigen Blick das Herz verändert. Diesen Jesus finden wir vor allem in den Sakramenten, insbesondere in der Eucharistie.

Geistlicher Rat: Erlebe die Heilige Messe nicht als Zuschauer, sondern als Jünger. Sieh auf den Herrn in der Eucharistie und sage: „Zeige mir dein Gesicht.“

Für alle, die Christus ähnlich werden wollen:

Das in der Schrift gezeichnete Bild Jesu strahlt Gelassenheit, Gerechtigkeit, Demut und Weisheit aus. Ist das nicht genau das, was die Welt heute braucht? Väter, Lehrer, christliche Führungspersönlichkeiten – alle sind aufgerufen, dieses Gesicht zu widerspiegeln.

Praktischer Rat: Wähle jeden Monat eine Tugend Christi (Geduld, Sanftmut, Standhaftigkeit, Barmherzigkeit) und bitte ihn, dir zu helfen, sie zu leben. Stelle dir jeden Abend im Tagesrückblick die Frage: Welchen Zug des Antlitzes Christi habe ich heute widergespiegelt?


Schluss: Über den Text hinaus

Der Brief des Lentulus ist kein Evangelium, keine historische Quelle. Aber er besitzt etwas, das viele gelehrte Abhandlungen nicht haben: die Kraft, das Herz zu entzünden. Er erinnert uns daran, dass Christus keine Idee ist, sondern ein Gesicht. Und dass unser christliches Leben dann beginnt, wächst und sich erfüllt, wenn wir diesem Gesicht begegnen – wie Petrus, wie Paulus, wie Maria Magdalena – und ihm ohne Rückblick folgen.

„Lass dein Angesicht leuchten, so werden wir gerettet.“ (vgl. Psalm 80,4)


Schlussgebet

Herr Jesus, Antlitz des Vaters, vollkommenes Bild der Liebe:

Wir suchen dich nicht in alten Texten, sondern in der Wahrheit deines Wortes, im Licht deines Antlitzes, im Frieden, den du schenkst.
Hilf uns, dich im Glauben zu betrachten, dich im Alltag zu finden, dich in unserem Leben widerzuspiegeln.

Lass die Menschen, die uns begegnen, einen Strahl deiner Schönheit, deines Mitgefühls, deiner stillen Gerechtigkeit erkennen.

Amen.


Wenn dich dieser Artikel im Herzen berührt hat oder dir geholfen hat, Jesus mit neuen Augen zu betrachten, teile ihn mit anderen. Die Betrachtung des Antlitzes Christi ist kein geistlicher Luxus – sie ist eine Notwendigkeit für die Welt von heute.

Über catholicus

Pater noster, qui es in cælis: sanc­ti­ficétur nomen tuum; advéniat regnum tuum; fiat volúntas tua, sicut in cælo, et in terra. Panem nostrum cotidiánum da nobis hódie; et dimítte nobis débita nostra, sicut et nos dimíttimus debitóribus nostris; et ne nos indúcas in ten­ta­tiónem; sed líbera nos a malo. Amen.

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